Sonntag, 28. Februar 2021

Qualzucht 8 - Otitis, Rhinitis, Bakterien ...

Im letzten Blogbeitrag bin ich kurz auf den Wikipediaartikel "Widderkaninchen" eingegangen und habe ihn korrigiert. Natürlich weiß ich heute noch nicht, wie man darauf reagieren wird, um die Fakten weg- und den Link zu einer Tierschutzorganisation wieder reinzubringen.

Was mir in der Diskussion wie auch in einem Facebook-Kommentar auffiel ist folgendes: 

Zwergkaninchen, Widderkaninchen, Schlappohren, Rassen, Züchter

Mit diesen Begriffen wird seit einiger Zeit versucht, bestimmte Kopf- und Ohrformen wie auch die Größe von Kaninchen in einen Zusammenhang mit "Qualzucht" zu bringen. Durch diese ständige Assoziierung sind sie mittlerweile zu regelrechten "Kampfbegriffen" verkommen. Vereinigungen und Tierschutzorganisationen geben hierbei den Ton vor, der vor allem über soziale Medien heute nahezu jeden erreicht. Liest man heute irgendwo "Zwergkaninchen", ist ein Kommentar nicht weit, der darauf verweist, dass das bestimmt eine Qualzucht von Züchtern sei. Haltern von Widderkaninchen wird heute regelrecht vorgeworfen, ihre Tiere "still" leiden zu lassen, wenn sie nicht mindestens eine Computertomographie (CT) vom Kopf- und/oder Ohrbereich in Auftrag geben. Unterstützung erhalten sie dabei natürlich von Tierärzten, die über diese teuren Gerätschaften in ihren Praxen verfügen. 

Der Begriff "Rasse" ist bei Kaninchen mittlerweile zu etwas geworden, was sich auf den Phänotyp von Kaninchen wie die Stellung der Ohren und dem Gewicht beschränkt. Selbst in Dissertationen werden heute nur noch "Schlappohren" oder "Stehohren" untersucht. Weiter reicht eine Beschreibung der Tiere nicht. Das hat seine Gründe: 1. ist kaum ein Tierarzt in der Lage, ein wirkliches Rassetier von einem Hybriden zu unterscheiden und 2. macht es die, in der Regel unbekannte, Herkunft schwer, eine Rasse zu bestimmen. Eigentlich fragt eher ein Tierarzt den Halter, was das denn für ein Tier sei, welches vorgestellt wird.

In der folgenden Grafik habe ich versucht, anhand der Beschreibungen in "Studien", die Population der "Hauskaninchen" in Teilpopulationen einzuteilen. Die Größe der jeweiligen Teilpopulation ist nicht maßstäblich. Die Pfeile sollen darzustellen, welchen Weg die Kaninchen zwischen den Teilpopulationen nehmen können, z. B. durch Verkauf oder durch Maßnahmen des Tierschutzes. Der Trichter stellt im Prinzip dar, dass es sich bei den jeweiligen betrachteten Tieren (Tierarztpraxis, Disseration, Fachartikel) um eine kleine Teilmenge aus dem großen Graubreich stammt. Züchter nehmen in der Regel einen sogenannten "Hofarzt" zur Anspruch, der die Tiere vor Ort untersucht.

Bild 1: Populationen des Kaninchens in Deutschland. Die Überlappung mit der Population von Wildkaninchen ergibt sich aus dem Fakt, dass Haustiere auch verwildern.



Ohne genaue Zahlen zu kennen vermute ich, dass rund 99% aller Kaninchen, die Tierärzten in ihrer Praxis vorgestellt werden, aus einer Privathaltung kommen. Die Tiere der Privathalter wiederum stammen überwiegend aus "Vermehrungen" (Zuchten mit Profitorientierung), Hobbyzuchten ohne jegliche Vorgaben und solchen Hobbyzüchtern, die sich zwar an den Rassestandards des Zentralverbandes Deutscher Rasse-Kaninchenzüchter (ZDRK) orientieren, in diesem Verband aber nicht organisiert sind und dessen Vorgaben nicht unterliegen. Schließlich finden sich in Privathaltungen noch die Tiere, welche von Tierschutzorganisationen vermittelt werden. Tiere von ZDRK-Züchtern finden nur in geringer Zahl ihren Weg zu Privathaltern.Tiere aus der Mastindustrie oder Laboren werden in geringer Zahl von Tierschutzorganisationen aufgenommen und entsprechend an Privathalter vermittelt.

Der grau hinterlegte Bereich in der Grafik umfasst die Teilpopulationen, die Tierärzte in aller Regel zu sehen bekommen und die überwiegend auch in klinischen Studien genutzt werden. Oft werden diese noch weiter eingeschränkt, in dem z. B. nur Tiere untersucht werden, die in einer bestimmten Praxis vorgestellt wurden. Eine noch weitergehende Einschränkung könnte dann z. B. eine Auswertung von 388 CT-Aufnahmen von Tieren bilden, die wegen Erkrankungen im Kopfbereich in einer Praxis vorgestellt wurden. Eine solche wurde z. B. in der Dissertation von Reuschel, 2018 vorgenommen. In dieser wurden einfach nur "Stehohrkaninchen" mit "Widderkaninchen" verglichen, die "ausschließlich aus dem Patientenstamm der Klinik für Heimtiere, Reptilien, Zier- und Wildvögel der Stiftung Tierärztliche Hochschule Hannover" stammten. Weiter hieß es: "Alle CT-Untersuchungen wurden aus diagnostischen Gründen aufgrund vorliegender Erkrankungen der Ohren, der Zähne, des Atemtraktes oder aufgrund von Traumata durchgeführt. Bei allen Kaninchen handelte es sich um als Heimtier gehaltene Kaninchen diverser Rassen." (S. 30). Als "Heimtier" werden sinngemäß solche bezeichnet, die der Teilpopulation der "Privathalter" in Bild 1 entsprechen. In der Zusammenfassung der Arbeit wurde u. a. folgendes festgestellt:

"Die vorliegende Arbeit konnte die in der Literatur beschriebene Prädisposition von Widderkaninchen für Ohrerkrankungen belegen." (Reuschel, 2018, Zusammenfassung, S. 166)

Nein, das konnte sie nicht. Für solch eine allgemeine Aussage hätte die Stichprobe "repräsentativ" sein müssen. Die Stichprobe in der Arbeit enthielt aber aus einer Population von Hauskaninchen eine Auswahl von Tieren, die an der "Klinik für Heimtiere, Reptilien, Zier- und Wildvögel der Stiftung Tierärztliche Hochschule Hannover" (TIHO) vorgestellt wurden. "Bei allen Kaninchen handelte es sich um als Heimtier gehaltene Kaninchen". Es fehlten also höchstwahrscheinlich Tiere nach den Rassestandards des ZDRK. Von dieser Auswahl wiederum wurden z. B. für die CT-Auswertungen ausschließlich solche ausgewählt, die "aufgrund vorliegender Erkrankungen der Ohren, der Zähne, des Atemtraktes oder aufgrund von Traumata durchgeführt" wurden. Das heißt, die Grundgesamtheit in der Arbeit von Reuschel, 2018 umfasste eigentlich Tiere aus der Population des Hauskaninchens, aus dieser die als Heimtier gehaltenen Hauskaninchen, aus dieser jene, welche an der TIHO vorgestellt wurden und von diesen wiederum solche, die offenbar Erkrankungen aufwiesen. Nur auf diese können sich z. B. die Ergebnisse für CT-Untersuchungen der Arbeit beziehen, aber nicht allgemein auf "Widderkaninchen". 

Bakterien

Ein weiterer Punkt in der Arbeit von Reuschel, 2018 in Bezug auf Ohrerkrankungen war die Bakterienbelastung in "Steh- und Schlappohren" von Kaninchen. In der Wikipedia-Diskussion wurde mir dazu ein Zitat geliefert und gleich noch ein "gut gemeinter" Rat mitgegeben (blau die Meinung des/der Diskutierenden):

"Auch die Sache mit dem schlecht belüfteten Gehörgang wird in dieser Studie erwähnt: „Anaerobe Bakterien konnten signifikant häufiger bei erkrankten Kaninchen nachgewiesen werden als bei gesunden Kaninchen. Anaerobier waren bei keinem gesunden Kaninchen nachweisbar. Alle positiven Nachweise bei erkrankten Kaninchen stammten von Widderkaninchen. Dies deutet darauf hin, dass bei Widderkaninchen durch den Verschluss des Gehörgangs aufgrund der Schlappohren ein Luftabschluss entsteht und somit ein obligat anaerobes Wachstum ermöglicht wird.“ Du solltest die Studie also vielleicht selbst nochmal etwas genauer lesen. Auch solltest du wirklich aufpassen, dass du nicht versehentlich in die gegenteilige Ideologie derer abrutscht, die du kritisierst."

Welche gegenteilige Ideologie das sein sollte, entzieht sich meiner Kenntnis. Was ich aber getan habe, war die "Studie" (Disseration von Reuschel, 2018) zu lesen. Das gilt grundsätzlich für alle Arbeiten. Bevor ich mich mit den Ergebnissen beschäftige, mache ich mich erst einmal mit der Methodik vertraut, mit der sie erzielt werden sollen. Im Fall der Mikrobiologie, also der "Flora" in den Ohren bei gesunden wie auch erkrankten Kaninchen, findet man dazu u. a. folgende Feststellung:

"Im gesamten retrospektiven Auswertezeitraum von 2010 bis 2018 konnte nur ein einziges Stehohrkaninchen mit einer mikrobiologisch untersuchten Otitis gefunden werden. Zusätzlich lag aus der prospektiven Untersuchung ein Zufallsbefund einer Otitis externa vor. ... Damit waren bei den beiden erkrankten Tieren gramnegative und grampositive Keime zu gleichen Teilen vertreten." (Reuschel, 2018; Hervorhebung A. R.). Es gab also aus den Aufzeichnungen ein Stehohrkaninchen mit einer Otitis, die auch mikrobiologisch untersucht wurde. Ob es weitere Otitisfälle gab, die nicht mikrobiologisch untersucht wurden, wird nicht erwähnt. Zusätzlich ein weiteres Tier, das aktuell untersucht wurde.

Das heißt, in der Arbeit, die durch einen Vergleich von Stehohr- und Widderkaninchen einen Rückschluss auf eine allgemeine Population von Widderkaninchen ziehen wollte, standen für die mikrobiologische Untersuchung der Ohren genau 2 (in Worten: zwei) Stehohrkaninchen zur Verfügung.

Diesen beiden Stehohrkaninchen standen als Vergleich 36 (in Worten: sechsunddreißig) Proben von Widderkaninchen mit einem nachweisbaren, bakteriellen Keimwachstum zur Verfügung. Weil Dimensionen meist erst richtig erfasst werden, wenn man sie bildlich darstellt, folgt noch einmal der Vergleich der mikrobiologischen Untersuchung bei kranken Stehohr- und Widderkaninchen in dem folgenden Bild (links die Anzahl der Stehohrkaninchen, rechts die Widder, das eine, rote Widdertier wird noch erläutert):


Festgestellt wurde dazu u. a. folgendes:

  • "Die physiologische Flora des Ohres bei Stehohr- und Widderkaninchen unterschied sich nicht auffällig zwischen den beiden Gruppen."(S. 160)
  • "Die pathologische Flora sowohl bei einer Otitis externa als auch bei einer Otitis media wies keinen signifikanten Unterschied zwischen Stehohr- und Widderkaninchen auf."(S. 161)
  • "Anaerobe Bakterien konnten signifikant häufiger bei erkrankten Kaninchen nachgewiesen werden als bei gesunden Kaninchen. Anaerobier waren bei keinem gesunden Kaninchen nachweisbar. Alle positiven Nachweise bei erkrankten Kaninchen stammten von Widderkaninchen."(S. 162) Hervorhebungen A. R.

"Fusobacterium spp. waren als Anaerobier an einer Mischinfektion beteiligt." (Reuschel, 2018; Hervorhebung A. R.)

Die roten Textmarkierungen gehören zu dem roten Widderkaninchen in der Grafik oben.

Da "Fusobacterium sp" jeweils bei erkrankten Tieren mit pathologischen Veränderungen des äußeren Gehörganges (n=2) und der "Bulla tympanica" auftauchen (n=1), wird wohl nur ein Tier von dieser "Mischinfektion" betroffen gewesen sein. Von Reuschel, 2018 wurde vermutet, dass der Fund von Fusobacterium sp. auf einen Luftabschluss(!) des Gehörgangs bei Widderkaninchen beruhen könnte. Dazu muss man noch folgendes wissen: Fusobacterium sp. kommen in Schleimhäuten vor, desweiteren z. B. in Kieferabszessen (Tyrell et al., 2002) sowie im Hart- und Blinddarmkot des Kaninchens (Crociani et al., 1984) vor. Letzterer wird bekanntlich vom Kaninchen wieder aufgenommen.

Rhinitis

Neben den beispielhaft aufgeführten methodischen Aspekten der Arbeit ist noch folgendes interessant: im Literaturteil wird zum Teil recht ausführlich auf den "Kaninchenschnupfen" als ein möglicher Auslöser für die Entstehung einer Otitis eingegangen. Für eines der beiden Stehohrkaninchen, welches für die mikrobiologischen Auswertungen von Reuschel, 2018 zur Verfügung stand, wurde folgendes bemerkt: "Bei dem zweiten Kaninchen lag eine Infektion mit einem hochgradigen Gehalt an P. multocida vor. Vorberichtlich lag bei diesem Tier eine chronische Kaninchenschnupfenerkrankung vor." (Reuschel, 2018). Bei kleinen Stichproben wird auch gern mit Prozentzahlen gearbeitet, um eine gewünschte Dramatik zu erzielen, was aber eigentlich nicht mein Ziel ist. Um meinen Lesern aber deutlich zu machen, wie das geschieht, wende ich hier ausnahmsweise diesen "Trick" an, der sonst üblicherweise von anderen genutzt wird und teile hiermit folgendes mit: "in einer Studie wurde festgestellt, das 50% der Stehohrkaninchen, die an Kaninchenschnupfen erkrankt waren, auch an Otitis litten.

Das würde Stehohrkaninchen mit Kaninchenschnupfen in eine ganz andere Liga katapultieren, denn bei diesen müsste jetzt bestimmten Empfehlungen folgend zwingend auch eine CT-Untersuchung bei Stehohrkaninchen durchgeführt werden, um eventuelle Otitiden ausschließenen zu können. Tierschützer werden das nicht gern hören, aber Tierärzte schon. Wie ich darauf komme?

Ewringmann, 2016 schrieb in ihrem Buch zu "Leitsymptomen" u. a. folgendes: "Mittel- und Innenohrentzündungen ohne Beteiligung des äußeren Gehörganges (bei intaktem Trommelfell) sind oftmals als Komplikation eines Kaninchenschnupfens ... zu beobachten. Haupterreger ist dabei Pasteurella multocida, aber auch andere Keime, z.B. Bordetella bronchiseptica, Streptococcus sp., Staphylococcus sp., Klebsiella sp. und Pseudomonas sp., können beteiligt sein. Die Erreger breiten sich durch die Tuba auditiva in Ohrrichtung aus, sodass der Gehörgang bei der Adspektion keine Entzündungssymptome aufweist. Es fällt unter Umständen jedoch eine Vorwölbung des Trommelfelles durch Eiteransammlungen im Mittelohr auf. Die Otitis kann parallel zur Schnupfenerkrankung verlaufen, sich erst bemerkbar machen, wenn die Schnupfensymptome bereits längere Zeit abgeklungen sind oder auch ohne vorangegangene Schnupfenerkrankung auftreten." (Ewringmann, 2016; Hervorhebungen A. R.)

In der Arbeit von Reuschel, 2018 findet sich nun, meiner Meinung nach, eine (von mehreren) Merkwürdigkeit. Der diagnostizierte Kaninchenschnupfen aus der retrospektiven Probe eines Stehohrkaninchens wurde ausdrücklich erwähnt. Bei den prospektiv untersuchten Widderkaninchen findet sich aber kein Wort über eventuelle Erkrankungen dazu. Obwohl die Tiere zur Verfügung standen und untersucht wurden, gab es keinerlei Informationen zu einer Diagnostik. Kaninchenschnupfen wird üblicherweise anhand bestimmter Symptome diagnostiziert, die durch einen Erregernachweis bestätigt werden kann. Vielmehr wurde über die gefundenen Bakterien und ihre Häufigkeit anhand von Literaturverweisen hin und her vermutet, ob diese einen Beitrag zu Kaninchenschnupfen hätten liefern können. Aber keine Diagnose. Keine Informationen zu Zahnerkrankungen oder Abszessen - nichts.

Da es keine signifikanten Unterschiede bei gesunden und erkrankten Stehohr- und Widderkaninchen in Bezug auf die pathologische Flora gab und ein Stehohrkaninchen (von zwei; also 50%) an einem Kaninchenschnupfen litt, muss aber eigentlich fast zwingend davon ausgegangen werden, dass dies bei den Widderkaninchen ebenfalls der Fall war.

Insbesondere der Hinweis von Ewringmann darauf, dass Schnupfensymptome schon lange abgeklungen sein können und erst später eine Otitis diagnostiziert wird, ist ein sehr wichtiger. Diese Fakt kann z. B. Ohrgrundabszesse erklären. Der Grund dafür ist die Verbindung des Nasenrachenraumes über die "Tuba auditiva" bzw. "Tuba Eustachii" (Eustachische Röhre) mit der Paukenhöhle des Mittelohres, über die Bakterien wandern und sich dort ansiedeln können. Diese Verbindung sorgt normalerweise für einen Druckausgleich zwischen Mittelohr und Nasenrachenraum. Den Effekt kennt jeder: wenn man schnell größere Höhenunterschiede überwindet, kann durch ein kräftiges Schlucken der Druckunterschied ausgeglichen werden, was auch gelegentlich durch ein "Knacken" im Mittelohr spürbar wird.

Kaninchen verfügen über eine sehr feine, knöcherne Struktur im Nasenrachenraum, die nur wenig durchblutet ist. Das ist der Grund, warum Antibiotika für die Behandlung eines Schnupfens bei den Tieren nur schlecht wirken. In der Fachwelt ist man sich darüber weitgehend einig, dass ein chronischer Schnupfen bei Kaninchen nicht heilbar ist. Die einzige Möglichkeit, dem Tier zu helfen, besteht in der Linderung der Symptome - also über die Haltungsbedingungen und der Ernährung. An dieser Stelle würde man jetzt eigentlich zu den Tierärzten kommen, die einen Beitrag leisten könnten.
 
Weitere Punkte
 
Tierärzte verfügen gegenüber den meisten Kaninchenhaltern einen großen Vorteil: sie haben im Studium zumindest Grundlagen verschiedener, wissenschaftlicher Fachbereiche vermittelt bekommen. Dazu sollten auch Grundlagen der Biostatistik gehören. Ferner sollten sie mit Grundlagen der Genetik vertraut und vielleicht sogar über Tierrassen und ihre Zucht informiert sein. Dass sie sich auch mit Wildkaninchen auskennen, ist vielleicht schon etwas viel verlangt, wäre aber natürlich schon von Vorteil. Viele Tierärzte besitzen mit Sicherheit die nötigen Voraussetzungen, um bestimmte Krankheiten zu erkennen und sie mit den zur Verfügung stehenden Mitteln zu behandeln. 

Neben dem Problem der korrekten Behandlung gibt es aber ein weiteres, sehr großes: die Kausalität. 
 
Das heißt im Prinzip nichts weiter als die Frage zu beantworten, wie bzw. warum es zu einer Erkrankung kommen konnte. Es soll ja verhindert werden, dass sie ein weiteres Mal auftritt. Meist unbewusst bedient man sich dabei der Betrachtung verschiedener Korrelationen, also wechselseitiger Beziehungen.  

In diesem Beitrag und anderen Beiträgen ging es um das Problem behaupteter "Qualzuchten" im Zusammenhang mit Kaninchenrassen. Die Korrelationen besteht also z. b. in einer Schädel- oder Ohrform mit dem Auftreten von Krankheiten. Korrelation "kurzer Schädel" und "Brachygnathia"; Korrelation "Schlappohr" und "Otitis". Als kausal wird die Zucht von Kaninchen mit kurzem Schädel oder Schlappohren gesehen. Die Zucht ist also die Ursache beobachteter Probleme. Die Welt ist schön und einfach. Und es wird noch schöner und einfacher: man muss die Schuld für das Entstehen von Krankheiten bei Zwerg- und Widderkaninchen nicht mehr bei sich selbst suchen. Die "Mutationen" sind schuld. Basta. Sagen ja auch die Tierärzte.
 
Tierärzte sollten aber auf Grund ihres Wissens in der Lage sein, zu differenzieren und auch andere Ursachen für Erkrankungen in Betracht zu ziehen. Wenn eine Tierschutzorganistaion z. B. auf ihrer Webseite über "Brachygnathia" fabuliert und als Beleg eine Literaturquelle die Dissertation von Glöckner, 2002 angibt, sollten Tierärzte wissen, dass ihre Kollegin dort genau keinen Zusammenhang zwischen Zahnerkrankungen und Kaninchenrassen fand. Wenn Tierschützer für ihre Behauptungen auf Arbeiten verweisen, deren Versuchsdesign von vornherein keinen Rückschluss auf eine Allgemeinheit zulässt und bestimmte Tierärzte dies goutieren, lässt das für mich persönlich den Schluss zu, dass sie mit diesen Tierschützern eines gemeinsam haben: keine Ahnung. 
 
Das Problem dabei ist, dass den eigentlich Betroffenen, nämlich den Tieren, überhaupt nicht geholfen wird. In den allermeisten Fällen liegen die Ursachen in den Haltungsbedingungen und der Ernährung der Tiere - das betrifft normale Halter wie auch Tierschützer. Das gilt für alle Tiere unabhängig von einer Rasse. In der organisierten Kaninchenzucht stagnieren die Zahl der Züchter wie auch die der Zuchttiere, was auch für Widder- und Zwergkaninchen gilt. In der Heimtierhaltung scheinen diese aber zugenommen zu haben. Insbesondere Widder sind sehr beliebt und so ist wohl selbst für einen Laien nachvollziehbar, dass sie auch in Tierarztpraxen immer häufiger vertreten sind. 
 
Eine Tierärztin hat einmal sinngemäß festgestellt, dass ich kein Vertrauen in Tierärzte hätte. Das ist korrekt. Vertrauen und Respekt werden einem nicht mit einem Doktortitel verliehen, sondern müssen sich erarbeitet werden. Tierärzten, die ideologischen Kampagnen folgen, traue ich grundsätzlich nicht. Ich muss davon ausgehen, dass das ihre Urteilsfähigkeit beeinträchtigt. Ein Tierarzt kann sicher eine CT-Untersuchung durchführen und Vergleiche mit Referenzlinien anstellen. Die Frage ist, was man daraus ableitet. Laut Vorlesungsunterlagen der LMU München, die mir vorliegen, wäre das z. B. beim Kaninchen "Heu, Heu und nochmals Heu". Nach einer Arbeit von Böhmer & Böhmer, 2017 müssen die wohl überarbeitet werden. Pech für die Tiere, die bis dato auf ein solches Wissen hin von Tierärzten ernährt und sogar behandelt wurden.

Voraussichtlich nicht der letzte Beitrag zu einem leidigen Thema ...

Literatur

Böhmer, C. & Böhmer, E. 2017. Shape variation in the craniomandibular system and prevalence of dental problems in domestic rabbits: a case study in Evolutionary Veterinary Science. Veterinary sciences, 4(1), 5

Crociani, F., Biavati, B., Castagnoli, P., & Matteuzzi, D. 1984. Anaerobic ureolytic bacteria from caecal content and soft faeces of rabbit. Journal of applied bacteriology, 57(1), 83-88

Ewringmann, A. 2016. Leitsymptome beim Kaninchen. Diagnostischer Leitfaden und Therapie. 3., überarbeitete und erweiterte Auflage. Hippokrates Verlag. ISBN 978-3-13-219361-1

Korn, A. K. 2016. Zahn- und Kieferveränderungen beim Kaninchen. Diagnostik, Auftreten und Heritabilitäten. Giessen : VVB Laufersweiler Verlag. Dissertation

Meyers. 1999. Meyers großes Taschenlexikon. Bibliografisches Institut & F. A. Brockhaus AG. CD-ROM 

Quinton, J. F., Francois, M., Laprais, A., & Prelaud, P. 2014. Cytology of the external auditory meatus in healthy domestic pet rabbits (Oryctolagus cuniculus). Revue Medecine Veterinaire, 165, 263-6.

Reuschel, M. 2018. Untersuchungen zur Bildgebung des Kaninchenohres mit besonderer Berücksichtigung der Diagnostik einer Otitis. Deutsche Veterinärmedizinische Gesellschaft Service GmbH, Gießen 2018, Dissertation, ISBN 978-3-86345-460-9
 
Tyrrell, K. L., Citron, D. M., Jenkins, J. R., Goldstein, E. J., & Veterinary Study Group. 2002. Periodontal bacteria in rabbit mandibular and maxillary abscesses. Journal of clinical microbiology, 40(3), 1044-1047

2 Kommentare:

  1. Kennen Sie schon Brandolini's law? Das besagt, dass das Widerlegen von Bullshit eine Zehnerpotenz mehr Energie benötigt, als dessen Produktion. Diese Weisheit beschreibt wohl am besten den Arbeitsaufwand, den Sie hier betreiben. Wenn ich mir diesen Blog aber so anschaue, bin ich mir wirklich nicht sicher, ob eine Zehnerpotenz ausreichen wird...

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  2. Das Problem dabei ist, dass viele Behauptungen z. B. genutzt werden, um in Märkte einzugreifen (mittlerweile erfolgreich) oder in Gesetzgebungsverfahren. Der Bullshit wird tatsächlich ernst genommen. Da ich versuche, nebenher auch noch etwas Wissen über Kaninchen zu vermitteln, tangieren mich Zehnerpotenzen peripher.

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