Sonntag, 27. September 2020

Qualzucht 2 - Aufsätze und die Statistik

Im folgenden Beitrag erläutere ich kurz einige Grundlagen der Statistik, die für ein Verständnis von Studien sinnvoll sein können. Zum Prüfen der Informationen bzw. dem Nachlesen weiterer für Interessenten nutze ich ein die 4. Auflage eines Buches von Dr. Christel Weiß mit dem Titel „Basiswissen Medizinische Statistik“ von 2008 aus dem Springer-Verlag und zitiere daraus. Hervorhebungen stammen immer von mir.

Im Vorwort heißt es dort: „Es gibt keine gute Medizin ohne Biostatistik. ... Ärztliches Handeln muss auf Wissen basieren. Ansonsten verfallen wir Zufällen und Halbwahrheiten, die auch dadurch nicht besser werden, dass sie mantrahaft wiederholt werden. Dies wäre unter ethischen, medizinischen und ökonomischen Aspekten nicht vertretbar. Medizinische Forschung ohne Statistik ist nicht möglich.“ Ich zitiere das deshalb, weil ich es nicht besser formulieren könnte. 

Im ersten Kapitel findet sich folgende Aussage: „Im Übrigen ist jeder Arzt – unabhängig von seinem Arbeitsgebiet – angehalten, sich permanent weiterzubilden, da sich das medizinische Wissen rasant vermehrt. Dabei benötigt er statistische Kenntnisse, um gute von schlechten Studien zu unterscheiden und um die Relevanz der dargestellten Ergebnisse für seine Patienten oder sein Labor beurteilen zu können.“. Mittlerweile greift eine Methode unter Tierärzten um sich: wenn sie auf Mängel in Studien hingewiesen werden, gehen sie nicht darauf ein, sondern verweisen einfach auf Ergebnisse aus ihrer Praxis. Das wäre auch gar kein Problem: sie müssen diese ja nur dokumentieren und statistisch absichern. Zum Beispiel durch einen Vergleich zwischen Schlappohr- und Stehohrkaninchen unter Beachtung einer Grundgesamtheit - also Hauskaninchen, die außerhalb ihrer Wahrnehmung existieren.

Beispielhaft dienen zwei Arbeiten für die folgenden Betrachtungen: eine Dissertation von Reuschel, 2018 und ein Aufsatz von Johnson & Burn, 2019.

Die Hypothese

Den Ausgangspunkt solcher Studien ist formuliertes Ziel, welches gelegnetlich auch als Hyptothese H0 bezeichnet wird.

Bei Reuschel, 2018 findet sich das nicht am Anfang seiner Arbeit, sondern erst in der Zusammenfassung: „Erkrankungen des Ohres kommen beim Kaninchen häufig vor und vor allem Widderkaninchen gelten aufgrund ihrer Schlappohren als prädisponiert. Allerdings fehlen bisher umfassende Untersuchungen, die Prävalenzunterschiede bei Stehohr- und Widderkaninchen belegen. … Die vorliegende Arbeit hatte daher zum Ziel das Vorkommen von pathologischen Veränderungen am Ohr in Bezug auf Prävalenzunterschiede zwischen Stehohr- und Widderkaninchen zu untersuchen und die beiden Diagnostika Röntgen und Computertomografie zu vergleichen.“.

Johnson & Burn stellten folgende Hypothese für ihre Arbeit auf: „We hypothesised that if the lop-eared phenotype leads to functional impairment, there would be significantly more aural pathology, such as ear canal stenosis, cerumen accumulation and inflammation and dental pathology, such as incisor overgrowth and molar spurs, in lop-eared rabbits than in erect-eared rabbits." (Übers.: Es wurde die Hypothese aufgestellt, dass es durch den Phänotyp des Schlappohrs zu einer Funktionsbeeinträchtigung kommt, die bei Schlappohrkaninchen zu signifikant mehr Ohrerkrankungen wie Gehörgangsstenose, Cerumenanhäufung und Entzündungen sowie zu Zahnerkrankungen wie verlängerte Schneidezähne und Backenzahnspitzen führen würden als bei Kaninchen mit Stehohren.)

Die Grundgesamtheit

In beiden Arbeiten gibt es in Bezug auf den Phänotyp (Schlapp- vs. Stehohr) keine weitere Einschränkung wie z. B. einer Haltungsform. Sie beziehen sich also beide pauschal auf alle Tiere dieser zwei Gruppen. Damit schaffen sich die Autoren der Arbeiten selbst ein Problem, denn theoretisch müsste man alle Hauskaninchen dieser Welt einsammeln und auf Ohr- bzw. Zahnerkrankungen untersuchen. Das wäre die sogenannte „Grundgesamtheit“, auf die sich die Untersuchungserbnisse beziehen sollen. Man kann die Wahrscheinlichkeit des Auftretens dieser Krankheiten bei Kaninchen aber auch mit einer Stichprobe untersuchen, die dieser Grundgesamtheit entnommen wird und für diese repräsentativ ist.

Die Stichprobe

Weiß, 2008: „Im Allgemeinen beschränkt man sich jedoch – insbesondere in der medizinischen Forschung – auf die Untersuchung einer relativ kleinen Teilmenge, nämlich der Stichprobe, und überträgt die daraus gewonnenen Erkenntnisse auf die Grundgesamtheit. Dies ist allerdings nur unter der Voraussetzung sinnvoll, dass die charakteristischen Eigenschaften der Stichprobe – abgesehen von zufällig bedingten Abweichungen – mit denen der Grundgesamtheit übereinstimmen. Eine solche Stichprobe heißt repräsentativ.

Stichprobengröße

Dazu Weiß, 2008: „Die optimale Stichprobengröße muss daher vor der Datenerhebung festgelegt werden. Sie hängt von zahlreichen Faktoren ab, u. a. von den Skalenniveaus der Merkmale, den Kenngrößen, die geschätzt werden sollen und der erforderlichen Genauigkeit der Schätzung.“. Früher musste die mühsam errechnet werden, heute kann man sogar im Internet Tools finden, die einem diese Arbeit abnehmen.

Hier ergibt sich nun folgendes Problem: die TVT z. B. schreibt in ihrem Merkblatt 157 von „Heimkaninchen“. Daneben existiert aber deutschlandweit noch eine Population von Zuchtkaninchen, die den Standards für Rassekaninchenzucht des ZDRK folgen. Das bedeutet, die gesamte Kaninchenpopulation (außer Wildkaninchen und industrielle Mast) setzt sich aus Tieren zusammen, die in Wohnungen, bei Hobbyzüchtern, in Tierheimen und bei Rassekaninchenzüchtern (ZDRK) leben. Die charakteristischen Eigenschaften dieser Haltungsformen können ganz unterschiedlich sein, was sich natürlich auf eine Stichprobe auswirken kann. 

Von den genannten Populationen existiert nur eine, die sehr viele Informationen über die Zahl der Tiere und deren Zustand dokumentiert: die organisierte Rassekaninchenzucht im Verband des ZDRK. Der Bestand der Tiere wird von der „Zentrale Dokumentation Tiergenetischer Ressourcen in Deutschland“ (TGRDEU) erfasst, die zur „Bundeszentrale Landwirtschaft und Ernährung“ (BLE) gehört. Im Jahr 2018 wurden von ihr insgesamt 693.671 Kaninchen verschiedener Rassen und Farben der organisierten Zucht erfasst. Von diesen gehörten 119.064 Tiere (17%) verschiedenen Widderrassen, also „Schlappohren“ an. Der Einfachheit halber gehe ich im Weiteren von einer Gesamtzahl der Rassekaninchen von 700.000 aus. Ebenfalls angenommen wird von mir eine doppelte Populationsgröße im unkontrollierten „Dunkelfeld“ (Wohnungen, Hobbyzucht, Tierheime, „Pflegestellen“ etc.), also 1.400.000 Tiere. Das ergäbe eine Grundgesamt von 2,1 Millionen Hauskaninchen in Deutschland.  Um die nötige, repräsentative Stichprobengröße zu errechnen, benutze ich den Online-Rechner. Ohne tiefer darauf einzugehen, werden für das Konfidenzniveau 95% und für die Fehlerspanne 5% ausgewählt, die standardmäßig in solchen Untersuchungen benutzt werden. Erklärungen dazu finden sich auf der gleichen Webseite. Damit ergibt sich als Stichprobengröße aus der Grundgesamtheit eine Anzahl von 385 Tieren. Wie bereits erwähnt ergibt sich diese Anzahl aus dem Anspruch der zwei Arbeiten, eine Prädisposition für bestimmte Erkrankungen allgemein für Widderkaninchen nachweisen zu wollen.

Ich schreibe häufig, dass sich das Ziel einer Arbeit allein schon aus grundlegenden, methodischen Mängeln nicht erreichen ließ. Eine zu kleine Stichprobe ist z. B. ein Grund dafür. Johnson & Burn untersuchten 30 Tiere (15 Schlapp-, 15 Stehohren). Damit ist der Fall erledigt. Man kann diese Arbeit als "Case study" bzw. Fallstudie bezeichnen. Aber sie ist nicht dafür geeignet, einen Rückschluss auf eine Population von Kaninchen allgemein zu ziehen. Das schreiben übrigens die Autorinnen auch selbst: "The use of a rescue population may of course not represent the general population of pet rabbits."

Weiß, 2008 schrieb zu diesem Thema (auf die Humanmedizin bezogen), dass man Untersuchungen „nur für einen speziellen, eng begrenzten Personenkreis durchführt und diesen als Grundgesamtheit auffasst. Allerdings gelten die dadurch gewonnenen Ergebnisse nur eingeschränkt auf die Menge der untersuchten Personen und lassen sich nicht verallgemeinern.“.

Auswahl der Stichprobe

Ein weiteres wichtiges Merkmal eine Stichprobe ist eine zufällige Auswahl aus der Grundgesamtheit. Johnson & Burn, 2019 untersuchten Tiere aus einem Tierheim, deren Mitarbeiter als kompetent beschrieben wurden. Der Leiterin des Tierheims, die die Tiere aussuchen sollte, wurde mitgeteilt, dass neben dem allgemeinen Zustand der Tiere die Zähne und Ohren untersucht werden sollten. Mit ihrer Kompetenz muss der Leiterin also klar gewesen sein, was das Ziel der „Studie“ war. Auffällig bei ihrer Auswahl von Tieren war z. B., dass keines der Stehohrkaninchen auffällige Krankheitsanzeichen oder Behandlungen aufwies (Backenzahnspitzen, potenzielle orale Schmerzreaktion, Mundschleimhautwunden, schlechter Fellzustand, Hypersalivation (Speicheln), tierärztliche Zahnbehandlung, tierärztliche Behandlung des Gehörs und Kratzen an den Ohren). Gemäß anderer tierärztlicher Studien hätte mindestens ein Tier an Zahnerkrankungen leiden müssen. Das deutet auf eine sorgfältige Auswahl hin. Wie bereits erwähnt, wiesen die Autorinnen aber selbst darauf hin, dass die Auswahl ncht repräsentativ für eine Grundgesamtheit ist.
 

Reuschel, 2018 untersuchte CT-Aufnahmen von insgesamt 388 Kaninchen, aber eben nur Tiere, die über einen Zeitraum von knapp 7 Jahren an der TIHO Hannover wegen diverser Krankheitssymptome vorgestellt wurden – also keiner Grundgesamtheit, die z. B. auch gesunde Tiere enthalten würde: „Alle CT-Untersuchungen wurden aus diagnostischen Gründen aufgrund vorliegender Erkrankungen der Ohren, der Zähne, des Atemtraktes oder aufgrund von Traumata durchgeführt. Bei allen Kaninchen handelte es sich um als Heimtier gehaltene Kaninchen diverser Rassen.“. Eine Kritik der Methode erfolgte in der Arbeit nicht, obwohl der Fakt, dass es sich um keine repräsentative Auswahl von Heimkaninchen handelte, einen Rückschluss auf diese Population nicht ermöglicht. Bei den Erkrankungen handelt es sich vornehmlich um solche im Kopfbereich.

Die vorstehenden, kritischen Darstellungen haben nichts mit der Qualität der jeweiligen Arbeit an sich zu tun. Sie sollen lediglich verdeutlichen, dass sie für die Zwecke, für die sie heute gebraucht werden, nicht geeignet sind.

An dieser Stelle sei noch ein Punkt erwähnt, der die Arbeit von Johnson & Burn, 2019 nicht besonders seriös erscheinen lässt. Es ist sehr beliebt, Auswertungen von einer zu kleinen Datenmenge damit zu kaschieren, dass sie in Prozent angegeben werden. Man könnte also z. B. behaupten, dass 50% einer Population verstarben, obwohl sie nur aus zwei Tieren bestand und eines davon verstarb. Aus einer prozentualen Angabe wird dieser Fakt nicht deutlich. Jason & Burn stellten in ihrer Arbeit z. B. fest, dass 7 von 15 Schlappohrkaninchen Schneidezahnerkrankungen aufwiesen, während dies bei Stehohrkaninchen nur bei 1 von 15 Tieren der Fall war. Daraus wurde dann folgende Aussage konstruiert: "Lop-eared rabbits had approximately 23 times higher odds of incisor pathology compared with erect-eared rabbits ...". Basierend auf einer ausgesuchten Datenmenge von jeweils 15 Tieren! Damit sollte wohl eine gewisse Dramatik erzeugt werden, was aber auf Grund der Datenmenge eher peinlich wirkt. Von Tierschützern wird diese Art der Darstellung eines Ergebnisses natürlich begeistert aufgegriffen.

In Bezug auf meine Kritiken wird mir von Tierschützern u. a. auch unterstellt, ich wäre als Lobbyist von wem oder was auch immer unterwegs. Vor einiger Zeit wurden von mir zwei Artikel in der "Kaninchenzeitung" veröffentlicht, die sich, passend zum Thema, mit statistischen Auswertungen beschäftigten. Hintergrund war damals die Behauptung, dass Kaninchen größerer Rassen aus bestimmten Gründen nur mit Pellets zu ernähren seien. Der "Wiesenfütterung" wurde in diesem Zusammenhang eine Tierschutzrelevanz unterstellt. Wer daran interessiert ist zu erfahren, wen und was ich damals kritisiert habe, kann das hier nachlesen:

Die Kapazität der Verdauungsorgane von Kaninchen
https://kaninchenwuerdenwiesekaufen.blogspot.com/2018/03/die-kapazitat-der-verdauungsorgane-von.html

Die Kapazität der Verdauungsorgane von Kaninchen (2)
https://kaninchenwuerdenwiesekaufen.blogspot.com/2018/03/die-kapazitat-der-verdauungsorgane-von_31.html

Literatur

Johnson, J. C. & Burn, C. C. 2019. Lop-eared rabbits have more aural and dental problems than erect-eared rabbits: a rescue population study Veterinary Record 185, 758

Reuschel, M. 2018. Untersuchungen zur Bildgebung des Kaninchenohres mit besonderer Berücksichtigung der Diagnostik einer Otitis. Deutsche Veterinärmedizinische Gesellschaft Service GmbH, Gießen. Dissertation. ISBN 978-3-86345-460

Weiß. C. 2008. Basiswissen Medizinische Statistik. Springer-Verlag. ISBN 978-3-540-71460-6

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