Freitag, 9. Oktober 2020

Qualzucht 3 - Bakterien, Pilze und Schlappohren

[Nachtrag vom 20.10.2020 siehe am Ende des Beitrages]
 
Neulich wurde ich auf einen Artikel in der "Augsburger Allgemeinen" vom 4.10.2020 aufmerksam gemacht, die ich bis dato nicht kannte. Trotzdem möchte ich kurz auf die Punkte des Beitrages der Tierärztin T. Warter, 2020 eingehen. Dafür nutze ich einige Originalzitate aus englischsprachigen Aufsätzen. Lesern, denen Fremdsprachen nicht so liegen, empfehle ich den Online-Übersetzer DeepL.com. Einfach den englischen Text aus meinem Text herauskopieren (markieren und STRG + C) und im linken Fenster bei DeepL einfügen (STRG + V). Die Übersetzung sollte automatisch erfolgen, wenn nicht, die Spracheinstellungen im rechten Fenster ändern.

Die Autorin des Beitrages widmete sich den Ohren von Kaninchen, weil: "in einer neuen Untersuchung aus London haben Tierärzte die Gesundheit von Widderkaninchen mit der von Stehohrkaninchen verglichen.". Da die Herkunft der Untersuchung nicht explizit erwähnt wird, kann nur vermutet werden, dass es sich um die Arbeit von Johnson & Burn, 2019 handelt, die wohl beide am Royal Veterinary College/Hatfield in der Nähe von London tätig sind.

Bakterien & Pilze in Schlappohren

Die Autorin des Artikels in der "Augsburger Allgemeinen" schrieb im ersten Punkt über Ohrentzündungen, neben bekannten anatomischen Aspekten, auch folgendes: "Wo der Gehörgang seinen Übergang nach außen hat, hängt das Schlappohr wie ein dicker Vorhang vor dem Loch. Belüftung des Ohres? Fehlanzeige. Innen ist es warm und stickig — ein idealer Nährboden fur Bakterien oder Pilze. Fazit: 1:0 für Stehohren.". 
 
Tatsächlich wurden aber in der "neuen Untersuchung aus London" in Bezug auf Bakterien und Pilzen gar keine Unterschiede zwischen den Ohrtypen gefunden: "The presence/absence, and also number of, Malassezia-like yeasts found on microscopy were not statistically significantly different between lop-eared and erect-eared rabbits. Only one mite was found, identified as Psoroptes cuniculi, in the ear of an erect-eared rabbit. This rabbit had no associated clinical signs or previous history of aural problems. No rod bacteria were identified, but cocci were found in three lop-eared rabbits and two erect-eared rabbits." (Johnson & Burn, 2019). Das heißt, die Aussage der Autorin mit einem wahrscheinlichen Bezug auf die Arbeit von Johnson & Burn, 2019 ist falsch. Die einzige Milbe als Verursacher der Ohhräude (Psoroptes cuniculi) in der ganzen Untersuchung fand sich auch noch ausgerechnet bei einem Stehohrkaninchen.
 
Im Übrigen formulierten die Autorinnen Johnson & Burn, 2019 Fakten in ihrer Arbeit sehr vorsichtig: "The use of a rescue population may of course not represent the general population of pet rabbits. ... The results from this research support the hypothesis that lop-eared rabbits have more dental and aural pathology than erect-eared rabbits.". Sinngemäß übersetzt: Natürlich kann die Auswahl der Kaninchen einer Rettungsstation nicht repräsentativ für alle Heimkaninchen sein. Die Ergebnisse der Arbeit würden die Hypothese stützen, dass Hängeohrkaninchen öfter als Stehohrkaninchen an Zahn- und Ohrerkankungen leiden würden. Entgegen der pauschalen Rückführung von Ergebnissen einer klinischen Studie auf eine generelle Population, wie sie aus deutschen Arbeiten bekannt ist, formulierten die englischen Wissenschaftler ihre Rückschlüsse auch wissenschaftlich korrekt. Ergebnisse, die eine Hypothese stützen, sind immer noch kein zu pauschalisierender Fakt für eine generelle Population, sondern einfach nur eine weiterer Beitrag für eine Hypothese.

Interessanterweise gab es von Quinton et al., 2014 bereits eine Untersuchung, die das Vorkommen von Hefen im Ohr im Vergleich von Schlapp- und Stehohrkaninchen untersuchte. Das Kriterium für die Auswahl der verschiedenen Zwergkaninchen bestand darin, dass keines eine Otitis externa aufwies. Gemäß den Vermutungen/Behauptungen/Hypothesen hätten also Schlappohrkaninchen im Ohr eine deutlich höhere Erregerzahl als Stehohrkaninchen aufweisen müssen. Aber: "There was no significant difference regarding yeast isolation or number between the ear pinnae types, sex and age groups ... Bacteria were rarely observed and always in very small number. This is quite different compared to canine and feline ear cytology where cocci are common. As in the dog there was no difference between erected and pendulous pinnae in this study.". Auch hier finden sich also keine Hinweise darauf, was von der deutschen Tierärztin behauptet wurde.

Eine Dissertation von Reuschel, 2018 untersuchte ebenfalls die Mikroflora des Innenohrs von Kaninchen: "Für die Untersuchung der Mikroflora des Ohres bei Widderkaninchen wurden 30 Tiere ausgewählt, die ebenfalls aufgrund einer klinischen Erkrankung für eine CT in Narkose vorgestellt wurden. ... Die restlichen 24 Tupferproben stammten von Widderkaninchen, die aufgrund einer Otitisproblematik in der Klinik vorgestellt wurden.". In Bezug auf die Mikroflora wurde folgendes festgestellt: "Die Mikroflora bei gesunden Stehohrkaninchen und gesunden Widderkaninchen wies im χ²-Test und im exakten Test nach Fisher keine signifikanten Unterschiede auf, so dass für weitere Berechnungen diese beiden Gruppen zusammengefasst wurden. ... Die pathologische Flora bei einer Otitis externa zwischen Stehohr- und Widderkaninchen zeigte im χ²-Test und im exakten Test nach Fisher keine signifikanten Unterschiede. Auch bei einer Otitis media waren keine signifikanten Unterschiede feststellbar. Daher wurden beide Kaninchengruppen zu jeweils einer Gruppe mit Otitis externa und Otitis media zusammengefasst." (Reuschel, 2018). Die Mikroflora gesunder und erkrankter Schlapp- und Stehohrkaninchen unterschied sich nicht, so dass beide Gruppen in den Auswertungen zusammengefasst werden konnten. Oder anders - die illustre Beschreibung einer Wissenschaftlerin, dass der "dicke Vorhang vor dem Loch" für einen idealen Nährboden für Bakterien und Pilze sorgen würde, trifft gemäß den Ergebnissen der wissenschaftlichen Arbeit von Reuschel, 2018 schlicht und ergreifend nicht zu. 
 
Zu den weiteren Punkten Hörvermögen, Kommunikation und Verletzungen hatte ich bereits hier geschrieben. Die Formulierungen der Tierärztin zu diesen Themen stimmen weitgehend mit denen der erwähnten "Initiative" bzw, deren Webseite überein. Dort finden sich verschiedene "Mythen", die sorgsam gepflegt und "mantrahaft" (Weiß, 2008) wiederholt werden.
 
Ein Punkt, den ich dort erwähnt hatte, wurde auch von der Autorin aufgegriffen: Claaßen, 2018 stellte in seiner Dissertation (von der Autorin als "Messungen an der Universität Hannover" bezeichnet) fest, dass die Hörschwelle bei Widderkaninchen höher als bei Stehohrkaninchen liegt. Soweit, so richtig und nachvollziehbar. Die Autorin ging aber noch weiter und erklärte im selben Abschnitt offenbar im Zusammenhang mit der Dissertation: "Bei zusätzlichen chronischen Entzündungen werden Widderkaninchen manchmal sogar komplett taub.". Erstens wurde das von Claaßen in Bezug auf Widderkaninchen so nicht festgestellt und zweitens würde das auch Stehohrkaninchen betreffen - die möglichen Auswirkungen einer chronischen Mittelohrentzündung sind unabhängig von einer Ohrform, einer Tierart oder einer Rasse. Das sollte einer Tierärztin eigentlich bekannt sein. 
 
Ich hatte in einem früheren Beitrag aus einem Lehrbuch für medizinische Statistik von Weiß, 2008 zitiert und möchte es hier noch einmal wiederholen: "Ärztliches Handeln muss auf Wissen basieren. Ansonsten verfallen wir Zufällen und Halbwahrheiten, die auch dadurch nicht besser werden, dass sie mantrahaft wiederholt werden.". 

Nachtrag vom 20.10.2020: ich hatte am 13.10.2010 bei der Augsburger Allgemeinen nach der Quellenangabe für die "neuen Untersuchungen aus London" gefragt und am 19.10.2020 von der Tierärztin eine Antwort erhalten. Meine Annahme war richtig - es handelte sich um den Aufsatz von Johnson & Burn, 2019.

Literatur

Johnson, J. C. & Burn, C. C. 2019. Lop-eared rabbits have more aural and dental problems than erect-eared rabbits: a rescue population study. Veterinary Record 185, 758
 
Quinton, J. F., Francois, M., Laprais, A., & Prelaud, P. 2014. Cytology of the external auditory meatus in healthy domestic pet rabbits (Oryctolagus cuniculus). Revue Medecine Veterinaire, 165, 263-6.
 
Reuschel, M. 2018. Untersuchungen zur Bildgebung des Kaninchenohres mit besonderer Berücksichtigung der Diagnostik einer Otitis. Deutsche Veterinärmedizinische Gesellschaft Service GmbH, Gießen. Dissertation. ISBN 978-3-86345-460-9
 
Warter, T. 2020. Weshalb Kaninchen mit Stehohren gesünder leben. Augsburger Allgemeine (Online). Zugriff am 6.10.2020; https://www.augsburger-allgemeine.de/geld-leben/Weshalb-Kaninchen-mit-Stehohren-gesuender-leben-id58265361.html
 
Weiß. C. 2008. Basiswissen Medizinische Statistik. Springer-Verlag. ISBN 978-3-540-71460-6

2 Kommentare:

  1. Super Artikel! Hab gleich mal der Zeitungsredaktion geschrieben und mich dafür bedankt, dass sie die Öffentlichkeit über die Widder-Problematik aufklären!

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  2. Vielen lieben Dank für deine tolle Arbeit 👌

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