Samstag, 31. März 2018

Die Kapazität der Verdauungsorgane von Kaninchen (2)

In einem Artikel vom 20. März 2018 hatte ich Ergebnisse aus einer Dissertation von Ernst Müller aus dem Jahr 1919 vorgestellt. Veröffentlicht wurden diese in ähnlicher Weise in der Kaninchenzeitung. Im ersten Teil wurde speziell die Arbeit von E. Müller mit statistischen Methoden bewertet und die pauschale Aussage von Dr. Schlolaut widerlegt, dass Hauskaninchen gegenüber Wildkaninchen über einen um einen halben Meter kürzeren Darm verfügten und deshalb die Kapazität der Verdauungsorgane von Hauskaninchen geringer wäre. Im zweiten Teil wurde auf weitere Aussagen von Dr. Schlolaut unter Berücksichtigung wissenschaftlicher Arbeiten anderer Autoren eingegangen (Teil 1 und 2).


Der Vergleich gleich schwerer Wild- und Hauskaninchen bestätigte die Aussage von Müller, 1919 für seine Auswahl von Tieren. Der Vergleich von Wildkaninchen mit Hauskaninchen aber, die deutlich schwerer als diese waren, zeigten jedoch das genaue Gegenteil der Behauptung über einen verkürzten Darmtrakt - er war im Verhältnis zur Körperlänge sogar länger als bei Wildkaninchen.

Was mir bei Recherchen zu diesem Thema auffiel war die Tatsache, dass diese Behauptung von Schlolaut nur in deutschen Arbeiten zitiert wurde und wird, aber in keiner einzigen (mir bekannten) ausländischen Arbeit. Was man dagegen findet, ist negative Kritik an der Arbeit von Müller, 1919. In recht deftiger Weise stellte z. B. Haesler, bereits 1930 fest, dass die Ergebnisse von Müller auf „wahllos zusammengesuchten“ Tieren beruhten und die angewandten Untersuchungsmethoden „nicht befriedigen“ könnten. Insbesondere sei das Außerachtlassen der Verschiedenheit der Zusammensetzung der Nahrung von Wild- und Hauskaninchen ein Fehler. In dem Werk von Prof. Dr. Dr. Mangold sowie Dr. Fangauf "Handbuch der Kaninchenfütterung" von 1950 bzw. einem Artikel von Mangold, 1951 blieb die Dissertation von Müller unbeachtet. Interessanterweise wird Müller zwar heute auch im Ausland zitiert, aber nur mit Ergebnissen zum Augen- und Herzgewicht im Vergleich zum Wildkaninchen, aber eben nicht die ominösen Ergebnisse der Darmlängen. Wahrscheinlich hat man sich dort ernsthaft mit dieser Arbeit beschäftigt und festgestellt, dass die Interpretationen nicht zutreffend sind.

Der folgende Boxplot zeigt, was zum Probleme werden kann, wenn nur sehr wenige Werte für eine Statistik benutzt. In diesem Plot sind jetzt alle Werte der Wildkaninchen (n=25) und alle Hauskaninchen (n=29) aus der Arbeit von Müller, 1919 enthalten, und zwar unabhängig von ihren Körpergewichten und Darmlängen. Natürlich sind auch diese Stichproben zu klein, um eine repräsentative Auswahl darzustellen, aber ein Prinzip wird damit schon deutlich: das die Größe der Stichprobe eine wichtige Rolle spielt.

Bild 2:  Verhältnis der Körper- zur Darmlänge von 25 Wild- und 29 Hauskaninchen


Allein die Einbeziehung alle Tiere der Arbeit hat zur Wirkung, dass sich die Werte zueinander relativieren. Die Proportionen innerhalb von Wildtierpopulationen einer Art und einem bestimmten Standort sind immer sehr eng verteilt, während die von Haustieren natürlich auf Grund der Rassebildungen mehr oder weniger stark schwanken können. Man denke nur an die vielen Ohrformen und -längen, die es bei Hauskaninchen gibt. Diese werden durch züchterische Effekte erreicht. Was Züchter aber nicht vermögen, ist eine Veränderung bestimmter Körperprozesse und somit Beeinflussung innerer Organe. Manche ergeben sich schlicht durch unterschiedliche Beanspruchungen im Vergleich zum Wildtier wie z. B. die Größe des Herzens.

Der Vergleich in dem Boxplot (Bild 2) zeigt, dass das Verhältnis der Körper- zur Darmlänge weniger stark streut als bei den Hauskaninchen. Aber: die der Wildkaninchen sind gewissermaßen eine "Teilmenge" der Hauskaninchen - sie "passen" also in die Verteilung der Hauskaninchen hinein. Die Mediane (die mittleren Werte) der beiden Populationen (Wild- u. Hauskaninchen) stimmen mit 9,3 überein. Ich persönlich finde diese Übereinstimmung ganz erstaunlich wenn man bedenkt, dass es sich ja nur um wenige Tiere handelte und die Herkunft, Verfassung, das Alter usw. nicht bzw. nur zum Teil bekannt waren. Sie können mir jetzt sicher folgen, liebe Leser, wenn ich nun feststelle, dass der pauschal behauptete Unterschied zwischen Wild- und Hauskaninchen in Form eines um einen halben Meter verkürzten Darmtraktes nicht existiert. Man kann sich zwar jeweils Tiere heraussuchen, auf die das zuträfe, aber es wäre kein allgemein gültiges Merkmal für die Populationen.

Ohne an dieser Stelle detaillierter auf die Arbeit von Müller, 1919 einzugehen, lassen sich für den Vergleich und die Schlussfolgerungen folgende Mängel feststellen:
  • es gab keine Auskunft zur Rasse der ausgewählten Hauskaninchen.
  • das Alter der Hauskaninchen schwankte zwischen 6,5 – 19 Monaten.
  • das Alter der Wildkaninchen war, bis auf eines mit 4 Monaten, unbekannt.
  • der körperliche Zustand der Kaninchen war unbekannt
  • die Auswahl der Wildkaninchen für die Untersuchung anhand gleicher Körpergewichte im Vergleich zu Hauskaninchen erfolgte willkürlich (nicht zufällig).
  • die Haltung und Fütterung der Hauskaninchen war unbekannt
  • die jeweiligen Stichproben waren zu klein.
Mit anderen Worten: die Ergebnisse aus der Arbeit von Müller, 1919 sind für die Beurteilung des Verhältnisses der Körper- zur Darmlänge im Vergleich von Wild- und Hauskaninchen ungeeignet - es sei denn, man möchte trotz der zu kleinen Stichproben darstellen, dass das Verhältnis übereinstimmt.

Die Erklärungen aus dem ersten Artikel zu diesem Thema und aus diesem Artikel finden sich im ersten Teil einer Veröffentlichung von mir in der Kaninchenzeitung (Rühle, 2015a). Der erste Teil beinhaltet nur statistische Betrachtungen - man muss also noch nicht einmal Kaninchenexperte sein, um nachvollziehen zu können, warum die pauschale Aussage von Dr. W. Schlolaut falsch ist. Im zweiten Teil (Rühle, 2015b) bin ich darauf eingegangen, wo sich Unterschiede zwischen Wild- und Hauskaninchen tatsächlich finden und wie diese zustandekommen. Dazu komme ich später noch, aber zunächst möchte ich erst noch auf die Antwort von Dr. W. Schlolaut in Form einer Leserzuschrift eingehen.

Zuvor möchte ich noch einmal folgendes klarstellen: Dr. W. Schlolaut beschäftigt sich seit Jahrzehnten als Wissenschaftler mit Kaninchen, ich mache das nebenbei als Hobby. Ich arbeite seit meinem Studium als Ingenieur in der Forschung & Entwicklung und habe in dieser Eigenschaft z. B. mit der Erstellung von DoE (Design of Experiment), Risikoanalysen in Form von FMEA (Failure mode and effective analysis), der Begutachtung und Analyse von Prozessen, Qualitätsmanagement usw. zu tun. In meiner Freizeit halte ich Kaninchen und beobachte seit vielen Jahren Wildkaninchen in ihren natürlichen Lebensräumen. Ich beschäftige mich intensiv mit wissenschaftlicher Literatur zum Thema "Kaninchen" und habe mir über Jahre eine umfangreiche, digitale Bibliothek aufgebaut. Viele Veröffentlichungen, sei es in Buchform, als Artikel oder Dissertation lese ich nur deshalb, weil ich dazu gewissermaßen "gezwungen" werde, um zum Teil sinnfreie Behauptungen darzustellen und zu widerlegen. Die Autoren kenne ich nicht persönlich und beurteile also nur und ausschließlich das, was sie veröffentlicht haben. Ob jemand einen "Professor" oder "Doktor" vor seinem Namen trägt, spielt für mich keine Rolle, sondern nur das, was von ihm/ihr behauptet wird. Ein Titel ist kein Garant für Qualität. Kurz: für mich zählen nur Fakten, Fakten, Fakten, die aber auch durch eigene Beobachtungen und Erfahrungen ergänzt werden (können). 

Zurück zu meiner Feststellung, dass die pauschale Behauptung über einen verkürzten Darm von Hauskaninchen im Vergleich zu Wildkaninchen von Dr. W. Schlolaut nicht zutreffend ist. In einer Leserzuschrift äußerte dieser sich zu den Artikeln von mir. Ich möchte mich an dieser Stelle a) bedanken, und mich hier dazu äußern, weil b) meine Anmerkungen zu dieser Leserzuschrift etwas länger werden und c) nicht jeder die "Kaninchenzeitung" abonniert hat. 

Natürlich wurde in dieser Leserzuschrift mit Quellenangaben zu irgendwelchen Behauptungen nicht gegeizt. Das Problem für mich ist aber, dass ich auf diese nicht konkret eingehen kann, weil mir die Literaturliste trotz wiederholter Anfrage nicht zur Verfügung gestellt wurde.

In der Folge werde ich die Aussage/Behauptung aus der Leserzuschrift von Dr. W. Schlolaut Kursiv darstellen und anschließend, soweit wegen der fehlenden Quellenangabe möglich, darauf eingehen.

"Unabhängig von der KM der Rasse oder Kreuzung seien [nach meinen Darstellungen, Anm. A. R.] Hauskaninchen in der Lage, sich den Bedürfnissen von Fortpflanzung und Wachstum entsprechend, mit frischem oder konserviertem Grünfutter zu ernähren, da sich die Struktur des Darmes dem unterschiedlichen Gehalt und der Verdaulichkeit von Nährstoffen anpasst. Kaninchen könnten daher auf die jeweilige Zusammensetzung der Nahrung mit einer effektiveren Ausnutzung der in der Nahrung enthaltenen Nährstoffe reagieren. Als Hinweis darauf wird die Zucht von Riesenkaninchen Ende des 19. Jahrhunderts genannt, als noch kein pelletier­tes Alleinfutter verfüttert wurde. Diese Aussagen stehen im Widerspruch zu folgenden Erkenntnissen: ..."

Der erste Satz enthält eine falsche Darstellung, weil ich in meinem Artikel nicht behauptet habe, dass sich Kaninchen entsprechend ihrer Bedürfnisse von "konserviertem Grünfutter" ernähren würden. Außerdem muss es korrekt "innere Struktur des Darmes" heißen, denn darum ging es im zweiten Teil meiner Artikel.

"Das Verdauungsvermögen ist artspezifisch und wird nicht durch die Anpassung des Verdauungssystems an die jeweilige Zusammensetzung und den Gehalt an Nährstoffen verändert (Kamphues u. a. 2014)."

Dass das Verdauungsvermögen artspezifisch ist, liegt auf der Hand, aber der zweite Teil der Aussage ist nicht korrekt, egal welche Quelle zitiert wird. Wahrscheinlich handelt es sich um die 11. Auflage der "Supplemente zur Tierernährung für Studium und Praxis" von Prof. Dr. Kamphues als Herausgeber. Ich verfüge über die 10. Auflage und finde dort nirgends eine solche Aussage, wie von Dr. Schlolaut zitiert. Im allgemeinen Teil wird dort unter anderem zur Verdaulichkeit und Verdauungskapazität folgendes festgestellt:

Bild 3: Auszug aus Kamphues et al., 2009


Das hat allerdings nichts mit dem Thema meiner Artikel zu tun. Das Kapitel "8.2.5 Kaninchen" in dem Buch umfasst zwei Seiten, in denen auf das hier besprochene Thema aber nicht eingegangen wird (S. 306-308).

Das beste, weil einfachste Beispiel ist eine Nahrungsumstellung von Pellets auf Grünfutter, auf die der Organismus in der Regel erst einmal mit Durchfall reagiert. Wird die Umstellung beibehalten, MUSS der Körper auf die Nahrung reagieren, sonst wäre er nicht in der Lage, aus der voluminöseren (wasserhaltigeren) Nahrung und der daraus beschleunigten Darmpassage der Nahrung die erforderlichen Nährstoffe zu extrahieren. Das geschieht durch die Anpassung der inneren Struktur des Darms und der daraus folgenden Vergrößerung der inneren Oberfläche. Darauf gehe ich später noch ein.

"Mit abnehmender KM der Rasse oder Kreuzung wird das Futter besser verdaut (Wolf u.a., 2005). Außerdem wird je kg KM mehr Futter aufgenommen (Wolf u. a., 2006), obwohl die Unterschiede in der Kapazität der Verdauungsorgane nicht signifikant sind. Dementsprechend variiert in Anpassung an den unterschiedlichen Nährstoffgehalt und die Menge der Nahrung, sowie die Dauer der Vegetationsperiode in Wildkaninchenbiotopen die KM ausgewachsener Wildkaninchen zwischen durch­schnittlich 0,7 kg (Porto Santos), 1,5 kg (Mitteleuropa) und 2 kg (Neuseeland)."

Die angegebene Quelle mit Wolf u.a., 2005 ist (wahrscheinlich) ein Beitrag für ein Symposium, der mit fast gleich lautendem Titel und Inhalt noch einmal 2010 in einer Fachzeitschrift erschien (Wolf et al., 2010). Interessant ist er deshalb, weil er das, was ich in meinen Artikeln beschrieb, prinzipiell bestätigte, also keinen Widerspruch darstellt.

Untersucht wurden verschiedene Parameter von jeweils 5 weiblichen Kaninchen der Rassen Deutsche Riesen mit durchschnittlich 7,3 kg Körpergewicht, Weiße Neuseeländer mit 4,4 kg und Zwergkaninchen mit 1,8 kg Körpermasse. Ernährt wurden die Tiere mit Pellets.

Im Gegensatz zur Arbeit von Müller, 1919 wurde in dieser Untersuchung nicht die Darmlänge, sondern das Gewicht verschiedener Abschnitte des Verdauungstraktes pro 100 g KM (Körpermasse) ermittelt, also auch ein Verhältnis. Als Ergebnis wurde festgestellt, dass sich das Gesamtgewicht des Verdaungstraktes, bezogen auf die Körpermasse im Vergleich der Rassen nicht signifikant unterschied. Im Prinzip bestätigt das also meine Feststellung und ich freue mich natürlich, dass Dr. Schlolaut auf diesen verwies, obwohl er als Widerspruch nicht geeignet ist.

Bild 4: Masse des leeren Magen-Darm-Traktes (g uS/100 g KM) verschiedener Kaninchenrassen nach Aufnahme kräuterreicher Grünmehlpellets; aus Wolf et al., 2005, 2010

(DR= Deutsche Riesen, NL=Neuseeländer, ZK=Zwergkaninchen)

Eine bessere Verdauung der aufgenommenen Nahrung lässt sich bei Zwergkaninchen dadurch erklären, dass sie kleinere Bissen aufnehmen und diese auch intensiver kauen als größere Rassen. Das ist aber völlig normal, genauso wie der Fakt, dass kleinere Tiere, bezogen auf das Körpergewicht, einen höheren Energiebedarf als größere Tiere haben, weil die Körpergröße bzw das Volumen des Körpers mit der dritten Potenz zunimmt (m³) und somit mehr wächst als die Körperoberfläche, die nur mit der zweiten Potenz (m²) zunimmt.

Jetzt kommt aber noch etwas sehr Merkwürdiges: ich hatte nämlich auf diese Ergebnisse bereits im zweiten Teil meiner Artikel verwiesen:

"Von (Schlolaut, et al., 2011) wurde u. a. festgestellt, dass Jungtiere, deren Körpergewicht ausgewachsen größer als das von Wildkaninchen wäre, ihren Nährstoffbedarf mit Grünfutter oder -konservaten nicht decken könnten. Zurückzuführen wäre das auf den Fakt, dass die Kapazität des Gastrointestinaltraktes mit zunehmendem Körpergewicht der Population abnähme und das Futter schlechter verdaut werden würde. Als Quelle für diese Aussage wurde auf (Wolf, et al., 2005) verwiesen. Tatsächlich wurde dort aber für die Kapazität das genaue Gegenteil festgestellt: „Bei erheblichen individuellen Unterschieden konnten keine signifikanten rassespezifischen Auffälligkeiten in Größe und Füllung des Gastrointestinaltraktes von Kaninchen festgestellt werden.“. In der zitierten Veröffentlichung wurde eine geringere Ausnutzung der aufgenommenen Nahrung für größere Tiere festgestellt, was auf anatomische Unterschiede zurückgeführt wurde. Demnach könnten größere Tiere auch größere Bissen abschlucken und kauen die Nahrung nicht so intensiv wie z. B. Zwergkaninchen."

Jetzt, liebe Leser, vergleichen Sie mal bitte die zwei folgenden, zitierten Feststellungen:
--------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------
Schlolaut & Rödel, 2011:
"Trotzdem können Jungtiere, die Populationen angehören, welche ausgewachsen schwerer als das Wildkaninchen sind, mit Grünfutter oder -konservaten allein den Nährstoffbedarf für die veranlagte Wachstumsintensität nicht decken. Das ist darauf zurückzuführen, dass die relative Kapazität des Gastro-Intestinaltrakts mit zunehmendem Körpergewicht der Population abnimmt und das Futter schlechter verdaut wird (Wolf et al., 2005)."

Schlolaut, 2015:
"Mit abnehmender KM der Rasse oder Kreuzung wird das Futter besser verdaut (Wolf u.a., 2005). Außerdem wird je kg KM mehr Futter aufgenommen (Wolf u. a., 2006), obwohl die Unterschiede in der Kapazität der Verdauungsorgane nicht signifikant sind."
---------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------

Ich darf das unkommentiert stehen lassen, weil Sie, liebe Leser, schnell den Unterschied in den Aussagen des jeweils gleichen Autors erkennen.

Ebenso merkwürdig ist im Zusammenhang mit meinen Artikeln die Verknüpfung der Verdauung und Kapazität der Verdauungsorgane, deren Unterschied ja nicht signifikant ist, mit Kaninchen auf Porto Santos und Neuseeland. Was will man damit sagen? Auf Grund besonderer Umstände sind Wildkaninchen auf der Insel Porto Santos sehr klein, Charles Darwin stellte sogar dar, das hier eine neue (verwilderte) Art des Kaninchens "Oryctolagus cuniculus" entstanden wäre.

Wildkaninchen in Neuseeland werden nach Information des "Hawke's Bay Regional Council" im Mittel 1,5 kg schwer, wobei männliche Tiere etwas größer als weibliche sind: "In New Zealand the average weight of a wild rabbit is 1.5kg with the bucks (males) being slightly larger than the does (females)." (Quelle). Wildkaninchen sind also in Neuseeland, entgegen der Behauptung von Dr. Schlolaut nicht schwerer als mitteleuropäische. Es gibt Populationen in Neuseeland, die wohl etwas schwerer sind, weil sie auf verwilderte Hauskaninchen zurückgehen. Trotzdem an dieser Stelle noch einmal die Frage: was hat das mit der statistischen Auswertung einer Arbeit aus dem Jahr 1919 zu tun?

"Bei der Fütterung mit frischem oder konserviertem Grünfutter entspricht der Nährstoffgehalt der vom Hauskaninchen aufgenommenen Nahrung nicht der Nahrung des Wildkaninchens. Diese besteht aus Pflanzen und Pflanzenteilen (Blätter und Triebspitzen), die es als Folivore aus dem Aufwuchs selektiert. Im Vergleich zu diesem ist deren Gehalt an Eiweiß höher und der an Rohfaser niedriger und besser verdaulich. Den Nährstoffbedarf für Fortpflanzung und Wachstum kann es damit nur während der Vegetationsperiode decken. Im Winterhalbjahr hat Mangel an Nahrung und deren schlechtere Verdaulichkeit Gewichtsverluste und Hungertod zur Folge (Thompson u. King, 1994)."

Sätze 1-4: Wieso wird festgestellt, dass sich ein Hauskaninchen nicht wie ein Wildkaninchen ernähren kann, also von Blättern und Triebspitzen aus dem Aufwuchs?

Bild 5: Hauskaninchen bei der Fütterung. Die Menge ist sehr groß, weil die gesammelten Pflanzen a) auch nicht schmackhafte enthalten und b) der Stängelanteil bei geschnittenen Pflanzen recht hoch ist. Kaninchen fressen bevorzugt nur die Blattspitzen. Deshalb werden sie als "Folivore" bezeichnet (Blattfresser) bzw. Konzentratselektierer (engl.: Browser), weil sich in den Blattspitzen die Nährstoffe konzentrieren und der Rohfaseranteil bzw. der Cellulose- und Ligningehalt niedrig ist.


Bild 6: Ein Hauskaninchen frisst Grassamen - auch als "Kraftfutter" bezeichnet.


Was soll Hauskaninchen bei entsprechender Haltung und Fütterung daran hindern, aus der arttypischen Nahrung das auszuwählen, was sie brauchen? Und sicher steht die arttypische Nahrung in der Vegetationsperiode in ihrem natürlichen Lebensraum zur Verfügung. Für Wildkaninchen bedeutet das eigentlich Süd- und Mitteleuropa, wobei Südeuropa nur in Grenzen gilt, weil sie nur wegen der letzten Eiszeit bis dorthin zurückgedrängt wurden. Die natürliche (Rück-)Verbreitung bis in Teile West- und Nordfrankreichs erfolgte sehr langsam. Erst der Mensch hat sie dann in Gegenden verfrachtet, wo sie heute normalerweise gar nicht vorkommen würden - eben nach Porto Santo und Neuseeland und Australien und auf die Kerguelen und, und, und... Ich habe diese merkwürdigen Diskussionen immer wieder, wenn es um das entbehrungsreiche Leben von Wildkaninchen geht - aber die meisten Lebensräume haben sich Kaninchen nicht selbst ausgesucht, sondern sie wurden dorthin gebracht.

Satz 5: In Thompson & King, 1994 wird in verschiedenen Kapiteln genau das beschrieben. So wurden sie z. B. in Schweden und Russland auch in Regionen ausgesetzt, die im Winter sehr schneereich sind. Kein Kaninchen würde sich dort freiwillig ansiedeln. Aber was hat das mit einer falschen Behauptung eines kürzeren Darms von Hauskaninchen zu tun?

"Auch die von Hauskaninchen bevorzugte Nahrung enthält mehr Eiweiß sowie weniger und besser verdauliche Rohfaser (Somers u. a., 2008), als das vorgelegte Futter. Das ist umso weniger der Fall, je mehr Wert auf den restlosen Verzehr des zugeteilten Futters gelegt wird, und je weniger auf dessen unterschiedliche Nährstoffdichte und ­gehalt sowie Verdaulichkeit und Schmackhaftigkeit (Tabelle 2) Rücksicht genommen wird. Bei beliebiger Aufnahme nehmen Hauskaninchen von Rotklee doppelt so viel Trockensubstanz auf, wie von Gras (Schlolaut u. a. 2003)."

Das ist korrekt: bei falscher Fütterung kann es Probleme geben. Deshalb sieht das Tierschutzgesetz eigentlich auch vor, dass jeder, der ein Tier hält, betreut oder zu betreuen hat: "über die für eine angemessene Ernährung, Pflege und verhaltensgerechte Unterbringung des Tieres erforderlichen Kenntnisse und Fähigkeiten verfügen" muss. Das gilt für Heimtierbesitzer genauso wie für Züchter, Betreiber von Mastanlagen und deren Lobbyisten. Aus diesem Grund empfehle ich auch die Fütterung mit deutlich mehr Grünfutter (1,5fache der KM), als ein Kaninchen fressen kann - Grünfutter also nicht zu rationieren. Im Winter müssen sinnvolle Alternativen gefunden werden, aber in dieser Zeit muss ein Kaninchen auch keine "Leistungen" vollbringen. Der beständige Verweis auf die "Rotklee-Versuche" sehe ich kritisch, weil Klee vergleichsweise viel Saponine enthält, die normalerweise den Verzehr beschränken. Wenn aber in "ad-libitum"-Versuchen nichts anderes zur Verfügung steht, sagt das nicht unbedingt wirklich etwas über den Verzehr von arttypischer Nahrung aus. Aus diesem Grund sind für mich viele Versuche auch sinnfrei. Es fehlt immer die Referenz - nämlich Wildkaninchen oder eben Hauskaninchen mit einer weitgehend freien Nahrungswahl.

"Außerdem wird, im Vergleich zur beliebigen Aufnahme, weniger Futter aufgenommen, wenn dieses entsprechend dem Verzehr zwischen den Mahlzeiten zugeteilt wird. Mit Heu kann auch bei beliebiger Aufnahme lediglich der Erhaltungsbedarf gedeckt werden (Aitken u. Wilson, 1962). Im Vergleich zu Grünfutter (Schürch, 1949) und Heumehl (Wolf u. a., 2005) wird die im Heu enthaltene Rohfaser nur etwa halb so gut verdaut. Das ist darauf zurückzuführen, dass Heu schlechter mit den Zähnen zerkleinert werden kann und Rohfaser im Blinddarm verdaut wird. In diesen gelangen nur die Teile des Futters, die kleiner als 0,3 mm sind (Björnhag, 1976). Der Gehalt des Futters an Nähr- und Mineralstoffen sowie Vitaminen ist nicht nur von der Jahreszeit und dem Vegetationsstadium bei der Ernte abhängig, sondern auch von dem unterschiedlichen Niveau der Sachkunde der Betreuer."

Ja. Korrekt. Aitken u. Wilson haben 1962 ein Buch über die Fleisch- und Fellgewinnung von Kaninchen veröffentlicht, die Rohfaser in Heu wird schlechter verdaut, Björnhag, van Soest, Ehrlein und Cheeke haben den Mechanismus des "Fusus coli" im Zusammenhang mit der Besonderheit der Verwertung schwerer verdaulicher Nahrungspartikel im Blinddarm beschrieben, der Nährstoffgehalt in der natürlichen Nahrung schwankt und der Betreuer von Tieren sollte über Sachkunde verfügen. Alles richtig, aber was hat das mit einer falschen Behauptung eines kürzeren Darms von Hauskaninchen zu tun?

Im Übrigen wurde der Fakt der Rohfaserverdauung im zweiten Teil meines Artikels (Rühle, 2015b) allgemein und am Beispiel der Rohfaser von mir auch genau so formuliert: "In Bezug auf ihre Körpermasse ist der Nährstoffbedarf von größeren Tieren geringer als der von Zwergkaninchen, weil sich dieser proportional zur Körperoberfläche und nicht linear zum Körpergewicht verhält (Kleiber, 1947). Die schlechtere Verdaulichkeit des Futters bei größeren Kaninchen im Vergleich zu Zwergkaninchen ist allerdings keine überraschende Neuigkeit, sondern schon recht lange bekannt. P. Udén und P. J. van Soest (1982) verglichen etwa Jungrinder, Ziegen, Schafe, Ponys sowie Kaninchen der Rassen Holländer mit 1,3 kg und Belgische Riesen mit einem Gewicht von 5,1 kg in Bezug auf ihre Fähigkeit zur Verdauung von Rohfaser. Im Vergleich der verschiedenen Tierarten verdauten Kaninchen die Rohfaser am schlechtesten, und im Vergleich zu den Zwergkaninchen verdauten die Belgischen Riesen die Fasern schlechter." Eigentlich wiederholt Dr. Schlolaut Aussagen aus dem zweiten Artikel von mir.

"Die vorgenannten Zusammenhänge haben zur Folge:
Bei überwiegender Ernährung mit frischem oder konserviertem Grünfutter sowie Wurzelfrüchten wird beim Hauskaninchen die artgemäße Zuchtreife umso mehr verzögert, je größer die KM der Rasse oder Kreuzung ist, bei gleichzeitiger Reduzierung der Zahl der Würfe je Häsin und Jahr

Die Milchleistung von Häsinnen mittel­schwerer und schwerer Rassen ist, im Vergleich zu Alleinfutter, nur halb so hoch (Schlolaut u. a., 2003) bei gleichzeitiger Abnahme der KM (Fangauf u. Dreyer, 1940)."

Das sind sehr interessante Feststellungen, weil sie das offenbaren, worum es Dr. Schlolaut wahrscheinlich am Ende eigentlich geht: die Nutzung des Kaninchens. Und jetzt wird das Tierschutzgesetz interessant - weil im Zusammenhang mit "artgemäß" auch der Begriff "Zuchtreife" benutzt wird. Es gibt in der Tierhaltung verschiedene Begriffe wie "Geschlechtsreife" (natürlich), "Zuchtreife" (vom Menschen gewünschtes Leistungsalter) und "Ausgewachsen" (natürlich). Kaninchen werden normalerweise mit einem Alter von > 3,5 Monaten "geschlechtsreif" und gelten mit ca. 9 Monaten als "ausgewachsen". Zwischen "geschlechtsreif" und "ausgewachsen" liegt also ein Zeitraum, der natürlich vor allem von der Mastindustrie gern so weit nach vorn wie möglich verlegt werden sollte. Ansonsten wären die Tiere nur "totes" Kapital, was Futter- und Haltungskosten verursacht, aber keinen "Nutzen" bzw. keine "Leistung" in Form von Nachwuchs bringt. Es ist sehr selten, dass weibliche Wildkaninchen im Jahr ihrer Geburt auch schon Nachwuchs zeugen.

Mit konzentrierten Futtermitteln wie "Pellets" wachsen Tiere in kurzer Zeit sehr schnell, wesentlich schneller als mit natürlicher, artgemäßer bzw. arttypischer Nahrung und da ein Maßstab für die "Zuchreife" ein erreichtes Körpergewicht gilt, versteht man auch das Plädoyer von Dr. Schlolaut für industrielle Futtermittel. In Verbindung mit der künstlichen Besamung kann man so eine effektive Fleischerzeugung aufbauen. Es gilt also: je schneller, desto besser. Das Wachstum mit arttypischer Ernährung verläuft eben in einem natürlichen Maß und ist deshalb "uneffektiv".

Mit dem Verweis bzw. der Zitierung aus seinem Werk "Das große Buch vom Kaninchen", 2003 geht Dr. Schlolaut auf die Milchleistung ein. Das dargebotene Beispiel macht mich etwas sprachlos, weil ein Wissenschaftler, der sich in seinem Berufsleben überwiegend mit Kaninchen beschäftigt hat, auch über deren Nahrung und den enthaltenen Nährstoffen Bescheid wissen sollte. Säugende "Häsinnen einer mittelschweren Rasse" wurden mit "Grobfutter" (Futterrüben und Heu ad libitum) sowie rationiert mit 80 g Kraftfutter/Tag ernährt. Mir ist wohl klar, dass es früher Versuche gab, die aus heutiger Sicht mehr als fragwürdig gelten. Das hat was mit Ethik zu tun. Aber wenn man heute selbst immer unterschwellig auch den Tierschutz ins Spiel bringen möchte, erscheint es mehr als ungeschickt, solche Versuche zu erwähnen - mit diesem "Futter" für säugende Häsinnen! Einem Wissenschaftler sollte klar sein, das Futterrüben und Heu keine sinnvollen Argumente in der Kaninchenernährung sein können.

Ich will Ihnen, liebe Leser, nur an einem Beispiel zeigen, wieso die Anführung von "Futterrüben" als Futtermittel aus meiner Sicht völlig sinnfrei ist: deklariert wird ein Futter in Deutschland immer noch mit Werten aus einer Analysemethode die 1860er Jahre - ja, Sie lesen richtig. Womöglich vergrößern Sie gerade auf ihrem Handy oder Tablet die Anzeige, um sich zu vergewissern, ob Sie richtig gelesen haben. Ja, haben Sie und es wird, solange Lobbyisten der Politik das Richtige einflüstern noch für lange Zeit so bleiben: wir beurteilen Futtermittel mit Werten aus der Weende-Futtermittelanalyse, die mittlerweile 160 Jahre alt ist. Aminosäuren kommen in dieser Analyse natürlich nicht vor, nur "Rohprotein". Selbst dieser Wert wird nicht analysiert, sondern errechnet. Wie auch immer: Protein setzt sich aus Aminosäuren zusammen, die dessen Qualität bestimmen. Unter den Aminosäuren gibt es solche, die als "essentiell", also lebensnotwendig bezeichnet werden. Darunter wiederum gibt es solche, die als "limitierend" bezeichnet werden, weil sie sie Verwertung des gesamten Proteins beeinflussen. Dazu gehören als schwefelhaltige Aminosäuren Methion und Cystin sowie Lysin, Threonin und Tryptophan. Das folgende Bild zeigt ein Diagramm mit den kumulativen Werten der Gehalte an diesen Aminosäuren im Vergleich für Wiese (Weide, extensiv) und Futterrüben.

Bild 7: Gehalte an Aminosäuren im Vergleich für Wiese (Weide, extensiv) und Futterrüben; Werte aus Jeroch et al., 1993; in g/kg Trockensubstanz


In Futterrüben sind im Vergleich zur Weide nur rund 20% der limitierenden Aminosäuren enthalten, wobei schon  allein die Differenz der schwefelhaltigen Aminosäuren Methionin und Cystin ausreicht, die Verwertung des gesamten Proteins zu behindern. Empfohlen wird ein Gehalt an schwefelhaltigen Aminosäuren von 5 g/kg Futter - das haben in der Futterrübe gerade mal alle limitierenden Aminosäuren in Summe! Da hilft auch der Blinddarmkot nicht mehr. Es ist also schlicht sinnfrei, "Futtermittel" wie Futterrüben mit frischen Grünpflanzen oder Pellets zu vergleichen. Auch wenn es ein Wissenschaftler macht. Übrigens: die Gehalte essentieller Aminosäuren in industriellen Futtermitteln müssen nicht deklariert werden, aber gelegentlich werden sie in Futtermittelkontrollen geprüft. Im Jahresbericht des BVL (2015) wurde in der "Analyse der Inhaltsstoffe und der Anforderungen an die Beschaffenheit von Mischfuttermitteln" 50% der Proben als mangelhaft (Wert unterschritten) eingestuft. Allerdings muss festgestellt werden, dass nur zwei Proben untersucht wurden und von diesen eben eine mangelhaft war. Von 62 Proben dagegen, die auf den Proteingehalt geprüft wurden, entsprachen immerhin zehn (16%) nicht der Deklaration bzw. den Vorgaben.

Die offensichtliche Unterversorgung gefährdete ja nicht nur die Häsin, sondern auch ihren Nachwuchs. Im Vergleich zu einer Fütterung mit "Pelletiertes Alleinfutter zur beliebigen Aufnahme" wurde festgestellt, dass die unterversorgten Tiere nur die Hälfte der Milchleistung der Tiere erbrachten, die mit dem Alleinfutter ernährt wurden - ein "Meilenstein" der deutschen Wissenschaft.

Liebe Leser, das hat übrigens System: es werden immer wieder gern solche Beispiele gebracht, um festzustellen, das eine artgemäße bzw. arttypische Ernährung eine Unterversorgung von Kaninchen zur Folge hat und tierschutzrelevant wäre. Bitte erinnern Sie sich, dass eine Feststellung lautete "Ernährung mit frischem oder konserviertem Grünfutter sowie Wurzelfrüchten", der dann nahtlos die Erklärung mit der Milchleistung folgte. Frisches Grünfutter war in den Versuchen gar nicht dabei, es wird aber mal so nebenbei mit erwähnt, so dass der Eindruck entsteht, dass es zur verringerten Milchleistung mit beitragen könnte. Sehr geschickt gemacht. Wurzelfrüchte in Versuchen als "Grobfutter" einzusetzen, als wäre es ein Hauptbestandteil der natürlichen Nahrung von Kaninchen, verschleiert ebenso die, auch von Dr. Schlolaut anerkannte Tatsache, dass Kaninchen "Folivore", also Blattfresser sind. Nur in Notzeiten weichen sie auf die Wurzeln von Pflanzen aus und Wurzelfrüchte wie Futterrüben kommen in den allermeisten Lebensräumen von Wildkaninchen gar nicht vor.

Auch der stellvertretende Vorsitzende der „World Rabbit Science Association“ (WRSA), Dipl.-Ing. agr. R. Krieg formulierte beispielhaft diese Kontroverse folgendermaßen: “Bei der Fütterung von Pellets existieren konträre Meinungen. Die Befürworter sehen in erster Linie eine artgerechte und vollwertige Versorgung der Tiere mit allen Rohnährstoffen, Vitaminen, und Spurenelementen. Eine Arbeitserleichterung und ganzjährige Verfügbarkeit sind weitere Argumente. Die ablehnende Einstellung zur Pelletfütterung resultiert überwiegend aus der Einstellung zu artgerechter Fütterung. Hierbei wird der der ethologische Verhaltensvergleich von Wildkaninchen und deren Futteraufnahmeverhalten mit der Notwendigkeit von Strukturfuttergabe bei Hauskaninchen herangezogen. Dabei wird die Nährstoffversorgung in den Hintergrund gestellt.

Als Beweis für den Fakt der Nährstoff-Vernachlässigung sollte dann ein Beispiel der Energieversorgung dienen: „Kaninchen passen den Futterverzehr dem Energiegehalt der Ration an. Zum Vergleich: Eine säugende Häsin hat einen Tagesbedarf von 4,66 MJ umsetzbare Energie. Das entspricht etwa 430 g Pellets oder 2100 g Futterrüben.“ (Krieg, 2011).

Ein deutscher Wissenschaftler der WRSA vergleicht Pellets mit Futterrüben. Es geht um Kaninchen. Manche Dinge lassen einen einfach nur noch fassungslos zurück.

Und wie bereits erwähnt: es hat System.

Aber auch das hat natürlich nichts mit einem verkürzten Darm zu tun und wieder frage ich mich - was sollen mir diese Darstellungen in der Antwort von Dr. Schlolaut sagen?

"Die Zucht von Riesenkaninchen ist ohne die Angabe des Alters bei Zuchtreife kein Hinweis auf eine den Bedürfnissen entsprechende Ernährung. Sie wird durch kompensatorisches Wachstum, verzögerte Zuchtreife (Tabelle 1) und die Beifütterung von Futtermitteln mit höherer Nährstoffdichte ermöglicht. Diese war bereits in der zweiten Hälfte des 19. Jahr­hunderts üblich. Hochstetter (1875) gibt den jährlichen Kraftfutterbedarf einer Zuchthäsin mit 50 kg an, zuzüglich der gleichen Menge Wurzelfrüchte."

Um es kurz zu machen: Zuchtreife für Kaninchen heißt für mich ein Alter von > 8 Monate. Alles andere ist inakzeptabel. Wie man auf dieses Alter kommt, habe ich in meinem Buch "Das Kaninchen - Nahrung und Gesundheit" beschrieben. Trotzdem soll noch das folgende Zitat zeigen, wie es ein Kollege von Dr. Schlolaut mit Blick auf "Leistungen" sah:

"Die Geschlechtsreife setzt zwar bei allen Rassen und bei beiden Geschlechtern etwa mit 3 bis 4 Monaten ein. Als voll zuchttauglich wird man ein Tier aber erst ansehen, wenn der Körper sein Wachstum annähernd abgeschlossen hat, so daß zwischen Geschlechts- und Zuchtreife unterschieden werden sollte. Mit dem Erreichen der Zuchtreife kann das vorhandene Leistungspotential voll genutzt werden. Kleine und mittelgroße Rassen erreichen die Zuchtreife mit etwa 5 bis 6 Monaten (Körpergewicht 3,0 bis 3,5 kg). Große Rassen sind spätreifer, und die Tiere werden meist 8 Monate und älter, bevor sie in der Zucht Einsatz finden." (Schley, 1985)

Auf die Fortpflanzung als Leistungsmerkmal für Kaninchen werde ich in einem weiteren Artikel noch näher eingehen. Das wäre eigentlich ein wichtiges Thema für Tierschützer. Und der Bezug zu meinen Artikeln? Fehlanzeige.

"Bei Weidegang oder beliebiger Grünfut­teraufnahme im Stall decken mittelschwere Häsinnen und Jungtiere ihren Nährstoffbedarf nur zu durchschnittlich 50–60 % mit Aufwuchs (Hülsmann, 2005) oder Grünfutter (Cheeke u. a. 1982). Bei beliebiger Aufnahme der schmackhaftesten Futterpflanzen (z. B. Kleearten) wird wegen der im Vergleich zu pelletiertem Alleinfutter um 50 % geringeren Zunahmen die Zuchtreife von Weißen Neuseeländern um zwei Monate auf fünf bis sechs Monate verzögert (Schlolaut, u. a., 2003)."

Der Nachweis der falschen Darstellung einer verkürzten Darmlänge von Hauskaninchen im Vergleich zu Wildkaninchen hat nichts mit einer "Grünfutteraufnahme im Stall" zu tun und dass die "Zuchtreife" bei einer Fütterung mit frischem Grün auf das natürliche Fortpflanzungsalter hinausläuft schon gar nicht. Und auch hier wieder die Frage: was sollen mir diese Feststellungen von Dr. Schlolaut sagen? 

Die Arbeit von Hülsmann, 2005 ist mir nicht zugänglich. Mit der Quellenangabe "Cheeke et al. 1982" ist wohl dessen Buch "Rabbit production" gemeint. Auf die Beschaffung verzichte ich, weil ich über das Buch "Rabbit feeding and nutrition" von Peter R. Cheeke aus dem Jahr 1987 verfüge - eines der besten Bücher über Kaninchen, welches ich kenne. Wie auch immer: aus der Erfahrung bezweifle ich die pauschale Wiedergabe dieser Quellen von Dr. Schlolaut, weil sie in der Form, wie sie getroffen wurde (beliebige Grünfutteraufnahme) nicht zutreffen kann. Aus Erfahrung würde es mich wundern, wenn ich falsch läge.

Interessant an den Feststellungen ist ja, dass sie sich auf "mittelschwere" Kaninchen beziehen. Es klingt wahrscheinlich für viele paradox, aber wenn es so wäre wie beschrieben, müssten die Zwergrassen ein noch viel größeres Problem haben. Oder die Wildkaninchen. Das hängt, wie oben schon einmal beschrieben, mit der "metabolischen Körpermasse" zusammen - also der Körpermasse im Verhältnis zur Körperoberfläche. Auch das werde ich noch einmal in einem Artikel behandeln.
 
"Zur sachkundigen Betreuung des Hauskaninchens gehört die Kontrolle der Körpermasse als Nachweis einer bedarfsgerechten Ernährung."

Nun ja: mit dieser Behauptung lehnt sich Dr. Schlolaut ziemlich weit aus dem Fenster.  Zur Sachkunde gehört ebenso die Kenntnis über die natürliche Nahrung des Kaninchens und der darin enthaltenen Nährstoffe, wenn man Vergleiche führen möchte. Die Körpermasse allein ist kein Maßstab für eine bedarfsgerechte Ernährung, vor allem dann nicht, wenn sie darauf ausgelegt ist, Kaninchen in kurzer Zeit auf ein Zielgewicht zu bringen. Damit sind in der Regel hohe Verluste verbunden. Die Ernährung des Kaninchens mit Pellets kann oft gar nicht zu einer bedarfsgerechten Versorgung führen, weil die angegebenen (deklarierten) Inhaltsstoffe nur über wenig Aussagekraft verfügen und sie nachweislich noch nicht einmal mit dem Gehalt im Futter enthalten sind, der deklariert wird. Und das, obwohl die Toleranzen schon sehr hoch sind. Man kann nicht von "bedarfsgerecht" reden, wenn man noch nicht einmal über Kenntnisse essentieller Nährstoffe verfügt. Ebenso wichtig wären Kenntnisse über die Gerüstsubstanzen, deren Bedeutung schon mindestens seit den 1960er Jahren bekannt ist. Ein deutscher Wissenschaftler führt aber im Jahr 2015 immer noch die "Rohfaser" als Argument an. Der nachweisliche Bedarf an bestimmten Faserfraktionen wird einfach ignoriert.  
 
"Jungtiere monatlich wiegen. Kaninchen sind ab einem Alter von 3,5 Monaten zuchtreif, wenn die KM dem Mindestgewicht der Rasse bzw. 75 % des Normalgewichtes entspricht. Jungtiere mittelschwerer Rassen müssen, um dieses zu erreichen, mehr als 25 g/Tag zunehmen."

Nein, dass müssen sie nicht. Sie müssen weder in einem Alter von 3,5 Monaten zuchtreif noch in dieser Zeit zwingend 75% ihres Normalgewichtes erreichen und dafür mehr als 25 g/Tag zunehmen. Das müssen sie nur, wenn man damit Geld verdienen möchte. Das hat auch nichts mit Tierschutz, artgerecht oder mit einem angeblichen verkürzten Darm von Hauskaninchen gegenüber Wildkaninchen zu tun. 
 
"Säugende Häsinnen am Tag nach dem Werfen und danach alle zwei Wochen bis zum Absetzen wiegen. Gewichtsverluste sind Hinweis auf Unterernährung oder Erkrankung.

Milchleistung kontrollieren. Hierzu die Häsin von den Jungtieren am Abend vor dem 21. Tag nach der Geburt trennen und am nächsten Morgen vor und nach dem Säugen wiegen. Die Differenz der KM entspricht der Milchleistung. Weniger als 200 g sind bei mittelschweren Häsinnen und sechs und mehr Jungtieren pro Wurf ein Hinweis auf Unterernährung oder Erkrankung. Offensichtlich wurde hiervon kein Gebrauch gemacht."

Das sind interessante und wichtige Hinweise. Mit den Artikeln von mir, die ja eigentlich das Thema der Auslassungen von Dr. Schlolaut waren, hat das allerdings überhaupt nichts zu tun. Der letzte Satz lässt mich zweifeln, ob Dr. Schlolaut meine Artikel in Gänze gelesen und verstanden hat.

"Der Quellennachweis kann unter sachkunde­kaninchen@web.de angefordert werden."

Das ist auch ein wichtiger Hinweis, der allerdings nichts bringt, weil trotz mehrmaliger Anfragen keine Antwort folgte. Der Wissenschaftler hat sie ignoriert.

Fazit
Liebe Leser, Sie sehen, es ist nicht einfach, auf ein paar hingeworfene Brocken einzugehen, die wissenschaftliche Aussagen suggerieren, deren Aussagekraft allerdings nur schwer zu prüfen sind. Dr. Schlolaut hat sich die Mühe gemacht, auf zwei Artikel einzugehen und sah sich veranlasst, die zitierten "Schlussfolgerungen" zu ziehen. Um ehrlich zu sein muss ich sagen, dass ich nach dem ersten Lesen dieser Schlussfolgerungen, die sich ja eigentlich auf einen konkreten Gegenstand beziehen sollten, zwar zufrieden war, weil sie meine Aussagen bestätigten. Nur - die "Schlussfolgerungen" hatten überhaupt nichts mit dem Inhalt der Artikel zu tun. Es schien, als hätte er einen Artikel geschrieben, der sich mit irgend etwas beschäftigte, nur nicht mit z. B. der Feststellung, dass sein wichtigstes Argument für die Mast- und Futtermittelindustrie falsch ist. Nämlich die Feststellung, Hauskaninchen hätten im Vergleich zu Wildkaninchen einen kürzeren Darm und insbesondere die Kapazität der Verdauungsorgane von Kaninchen, die größer als Wildkaninchen sind, wäre geringer. Dr. Schlolaut hat es aber immerhin geschafft, mal so ganz nebenbei eine seiner (falschen) Aussagen zu revidieren und festzustellen, dass sich die Kapazität der Verdauungsorgane verschieden schwerer Tiere nicht signifikant voneinander unterscheidet.

Ich habe in diesem Beitrag an einigen Stellen geschrieben, dass ich auf bestimmte Sachen später  noch einmal eingehen werde. Das betraf folgende Themen:
  • innere Oberfläche des Darms
  • Darstellungen von (deutschen) Wissenschaftlern zur Reproduktionsleistung von Kaninchen
  • Leistung von Kaninchen/Tierschutz
  • metabolische Körpermasse.
Das ist gewissermaßen der rote Faden für die nächsten Beiträge. Also bleiben Sie schön neugierig und interessiert!

Quellen:
  • BVL (2015):  Jahresstatistik 2015 über die amtliche Futtermittelüberwachung in der Bundesrepublik Deutschland (Langfassung 2015)
  • Jeroch, H., Flachowsky, G. und Weißbach, F. (1993): Futtermittelkunde. Jena, Stuttgart : G. Fischer, ISBN 3-334-00384-1 
  • Kamphues, J.; Coenen, M.; Kienzle, E. (2009): Supplemente zu Vorlesungen und Übungen in der Tierernährung. Alfeld-Hannover: M. & H. Schaper. 10. Aufl. ISBN 3-7944-0223-5
  • Kleiber, M. (1947): Body size and metabolic rate. Physiological Reviews. 1947, Bd. 27, 4, S. 511-541 
  • Krieg, R. (2011): Futterzusatzstoffe und Futterergänzungsmittel. Kaninchenzeitung 13/2011. S. 8-10
  • Mangold, E.; Fangauf, R. (1950): Handbuch der Kaninchenfütterung. Radebeul: Neumann Verlag GmbH
  • Mangold, E. (1951): Darmlänge, Durchgangszeit und Durchgangsgeschwindigkeit. Sitzungsberichte d. Deutschen Akademie der medizinischen Wissenschaften zu Berlin. Klasse für medizinische Wissenschaften Jhrg. 1950 Nr. III. Berlin : Akademie-Verlag Berlin, 1951a, S. 1-31.
  • Schley, P. (1985): Kaninchen. Stuttgart: Ulmer. ISBN 3-8001-4349-6
  • Schlolaut, W. (2015): Mehr Kapazität als gedacht (?). Kaninchenzeitung 11/12. 18-19
  • Schlolaut, W.; Rödel, H. G. (2011): Zur tierschutzrelevanten Problematik der Aufzucht von Hauskaninchen. Amtstierärztlicher Dienst und Lebensmittelkontrolle. 18. Jahrgang Nr. 2. 114-121
  • Udén, P.; Van Soest, P. J. (1982) :Comparative digestion of timothy (Phleurn pratense) fibre by ruminants, equines and rabbits. Br. J. Nutr. 47. 267-272 
  • Wolf, P.; Zumbrock, B.; Tabeling, R.; Kamphues, J. (2005): Einflüsse der Kaninchenrasse auf die relative Größe des Magen-Darm-Traktes sowie die Zusammensetzung des Chymus. 14. Arbeitstagung über Haltung und Krankheiten der Kaninchen, Pelztiere und Heimtiere. Gießen: DVG Verlag. 78-84. ISBN 3-938026-40-5
  • Wolf, P.; Zumbrock, B.; Kamphues, J. (2010): Untersuchungen zu möglichen Einflüssen der Rasse auf die relative Größe des Magen-Darm-Traktes sowie die Zusammensetzung des Chymus bei Kaninchen. Züchtungskunde 82(2) S. 165–175

Dienstag, 20. März 2018

Die Kapazität der Verdauungsorgane von Kaninchen

Vor einiger Zeit habe ich mich mit einer Aussage von Dr. W. Schlolaut beschäftigt, in der sinngemäß festgestellt wurde, dass der Darm des Hauskaninchens im Vergleich zum Wildkaninchen um einen halben Meter verkürzt wäre. Insbesondere träfe das für größere Tiere zu. Deshalb wären für die Ernährung von größeren Kaninchen Futterkonzentrate wie "Pellets" unerlässlich. Verschiedentlich wurde diese auch mit einer "Tierschutzrelevanz" begründet. 

Ich empfehle ja "Wiese" für Kaninchen jeden Alters und jeder Größe. Die Verbindung des Wissenschaftlers der unbedingten Fütterung von großen Kaninchen mit dem Tierschutz hat mich also natürlich beschäftigt, obwohl ich bis dato keine Beeinträchtung der Gesundheit großer Tiere, die mit "Wiese" ernährt wurden, feststellen konnte. Im Gegenteil - die Tiere hatten all diese Krankheiten, von denen man immer hört und liest eben nicht. 

Als Privatier habe ich nicht die Möglichkeiten, Versuche mit vielen Kaninchen zu starten, um diese Aussage zu überprüfen. Aber was ich habe ist die Möglichkeit zu prüfen, wie Dr. Schlolaut zu dieser Aussage kommt. Es müssen ja nachvollziehbare Informationen existieren, auf denen diese Aussage beruht. Also eine Evidenz (ein Nachweis). Ein Hinweis findet sich auf Seite 20 des bekannten Buchs von Dr. Schlolaut aus dem Jahr 2003, "Das große Buch vom Kaninchen". Dort wird auf Seite 20 folgendes festgestellt: 

"Die Kapazität von Magen und Blinddarm ist beim Wildkaninchen größer, der Dünn- und der Dickdarm sind um einen halben Meter länger (131)." (Schlolaut, 2003)

Die Quellenangabe Nr. 131 zeigt, dass die Information also nicht von Dr. Schlolaut selbst stammt, sondern von Hans Nachtsheim und Hans Stengel. In dem Buch "Vom Wildtier zum Haustier" kann man auf Seite 91 lesen:

"Magen und Blinddarm haben beim Wildtier eine größere Aufnahmefähigkeit, Dünn- und Dickdarm sind bei ihm durchschnittlich einen halben Meter länger. Die durchschnittliche Inhaltsmenge des Darmkanals ist aber beim Hauskaninchen größer." (Nachtsheim & Stengel, 1977)

Bild 1: Auszug aus Nachtsheim & Stengel, 1977; Seite 91


Also auch in der von Dr. Schlolaut zitierten Quelle wurde die Ergebnisse nicht originär festgestellt, sondern in einer Arbeit von Ernst Müller. Damit sind wir aber am Ende der Zitierkette einer Information aus einem relativ aktuellem Buch aus dem Jahr 2003. Die Information selbst stammt aber aus einer Dissertation des Jahres 1919. 

Bild 2: Titel der Arbeit von Müller, 1919

In dieser Arbeit wurden körperliche Unterschiede zwischen Wild- und Hauskaninchen untersucht. Zu diesem Zweck wurden verschiedene Daten von den Tieren erhoben, die u. a. einen Vergleich der Verdauungsorgane in Bezug auf Gewicht, Größe und mögliches Fassungsvermögen im Vergleich von Wild- und Haustieren ermöglichen sollten. 

Das Körpergewicht der Wildkaninchen lag zwischen 874-1797g und das der Hauskaninchen zwischen 1240-7300g. 

Aus den Daten der Wild- und Hauskaninchen wurde zunächst ein Durchschnitt für alle untersuchten Tiere und jeweils ein weiterer für den Vergleich von Tieren mit annähernd gleichem Gewicht errechnet. Als Fazit zog Müller für den Vergleich des Verdauungstraktes aus den Daten von nur 8 gleich schweren Wild- und 6 Hauskaninchen u. a. die folgenden, wesentlichen Schlussfolgerungen:

  • die Aufnahmefähigkeit sowohl des Magens als auch des Blinddarms ist beim Wildtier größer
  • der Blinddarm des Hauskaninchens kann im Verhältnis zum Magen einen größeren Inhalt als der des Wildkaninchens aufnehmen
  • der Darm (Dünn- und Dickdarm) ist beim Wildkaninchen durchschnittlich einen halben Meter länger.
Diese Befunde würden sich laut Müller mit der ungleichen Lebensweise der Tiere decken: während das Hauskaninchen fortwährend Nahrung aufnehmen könne, müsse das Wildkaninchen mehr auf Vorrat vorwiegend in den Abendstunden fressen.

Die bestandsführende Bibliothek hat mich auf meine Nachfrage nach dieser Dissertation insofern überrascht, dass sie mir die Arbeit geschenkt hat. Ich darf mich also heute als stolzer Besitzer des Originals einer Dissertation aus dem Jahre 1919 fühlen, deren Ergebnisse in einem Buch des Jahres 2003 zitiert werden. Das nur am Rande - nun aber zum Wesentlichen: der Vorteil einer Dissertation ist ja der, dass man eine Menge Rohdaten geliefert bekommt. Also nicht nur den Extrakt, aus dem dann Schlussfolgerungen gezogen werden, sondern (fast) alle Daten.

Bild 3: Tabellen aus Müller, 1919

Wahrscheinlich wird mancher Leser aufstöhnen und denken, was das jetzt soll: es wurden doch eindeutige Aussagen getroffen. In einer wissenschaftlichen Arbeit! Ok, die ist vielleicht etwas alt, aber immerhin wissenschaftlich. 

Was jetzt folgt, nennt man eine "Kritik der Methode" und ich werde den Nachweis führen, dass die Aussagen von Ernst Müller und all jener, die ihn später zitierten, nur sehr eingeschränkt zu nutzen sind und immer zwingend mit dem Hinweis auf entsprechende Einschränkungen versehen sein müssten. 

Eine pauschale Behauptung über eine verkürzte Darmlänge von Hauskaninchen gegenüber Wildkaninchen wie von Dr. Schlolaut mit dem Verweis auf E. Müller aus dem Jahr 1919 jedenfalls ist falsch. Nachweislich.


Heute hat man den Vorteil, dass man für statistische Auswertungen Software nutzen kann, die es zum Beispiel 1919 noch nicht gab. Das Prinzip statistischer Auswertungen ist aber gleich geblieben. Man benötigt für den vorliegenden Fall eine repräsentative Auswahl an Individuen, die stellvertretend für eine Gesamtheit steht. Diese Auswahl soll bestimmte Eigenschaften einer Gesamtheit spiegeln bzw. wiedergeben. Es liegt auf der Hand, dass man dafür eine große Anzahl an Individuen benötigt, um einen gewissen Querschnitt aus einer Population bilden zu können. 

Das Problem mit Statistiken

Wer kennt nicht das Bonmot: "Traue keiner Statistik, die du nicht selbst gefälscht hast.", dessen Herkunft zwar ungeklärt ist, das aber ein tiefes Misstrauen gegenüber Auswertungen wiedergibt, die auf irgendwelchen Zahlen und Zusammenhängen beruhen sollen. Zu Recht. Statistik beinhaltet das Sammeln, die Analyse sowie die Interpretation und Präsentation von Daten und in jedem Schritt können Fehler gemacht werden - sei es unbewusst oder bewusst. Schon im ersten Schritt - dem Sammeln von Daten - können Fehler gemacht werden, die sich dann in der folgenden Auswertung in Form falscher Interpretationen fortsetzen. 

Eines der größten Probleme statistischer Auswertungen, wie sie von Ernst Müller vorgenommen wurde, ist der Stichprobenumfang (auch Stichprobengröße) und die Art der Auswahl der Tiere. Das gilt natürlich insbesonders dann, wenn man die Untersuchungsergebnisse auf eine Grundgesamtheit bzw. Population übertragen möchte. Im vorliegenden Fall wurden bestimmte Merkmale von Wildkaninchen mit denen von Hauskaninchen verglichen. Genaue Zahlen über Populationsgrößen der Wild- wie auch Hauskaninchen gibt es nicht. Im Fall des Wildkaninchens dienen so genannte "Jagdstrecken" auch dazu, die Zu- oder Abnahme der Populationen zu erfassen. 1935/36 betrug z. B. die Jagdstrecke in Nordrhein-Westfalen 355.948 Tiere, 1939/40 lag sie bei 506.416 Tieren (Eylert, 2004). Das bedeutet, das die tatsächliche Populationsgröße zu dieser Zeit mehrere Millionen Tiere betrug. Selbst wenn man aber nur die Zahl der erlegten Tiere zu Grunde legt, müsste eine Stichprobe mindesten 1.100 Tiere umfassen, um mit einem Konfidenzniveau von 95% und einer Fehlermarge von 3% eine repräsantive Auswahl zu erhalten. Das bedeutet, erst mit einer Auswahl von 1.100 Tieren wäre man, bei einem Fehler von ±3% zu 95% sicher, dass die Stichprobe die Grundgesamtheit von > 300.000 Tieren widerspiegelt. Zahlen für Bestände an Hauskaninchen zu dieser Zeit sind (mir) nicht bekannt, aber sie dürfte ebenfalls sehr hoch gewesen sein, da nach dem Deutsch/Französischen Krieg 1870/71 die Kaninchenzucht in Deutschland stark zunahm. 

Ernst Müller verglich 1919 in seiner Arbeit in Bezug auf die Darmlänge 8 Wildkaninchen mit 6 Hauskaninchen.

Dieser Umstand macht deutlich, dass das Ergebnis keine Aussage über eine Allgemeingültigkeit zulässt. Deutsche Wissenschaftler scheint das aber nicht zu stören. Was hat nun aber Ernst Müller genau herausgefunden und was hätten Wissenschaftler später leicht nachprüfen können? Es geht ja um die Behauptung, dass die Kapazität des Darms von Hauskaninchen im Vergleichzum Wildkaninchen geringer wärer, weil der Darm um einen Halben Meter kürzer ist. Das würde insbesondere für größere Hauskaninchen ein Problem darstellen, weil sie ihren Nährstoffbedarf nicht decken könnten. Deshalb brauchen sie zwingend Pellets.

Bei Hauskaninchen, die genauso schwer waren wie Wildkaninchen gab es für Müller schon erste Probleme, weil es zwar eine Rasse gibt, die diese Anforderung erfüllt, aber dazu neigt, dieses Gewicht nicht zu halten.

Bild 4: Auszug aus Müller, 1919


Es ist halt nicht so einfach, Tiere in Gefangenschaft so zu halten und zu ernähren, so dass sie in Bezug auf die Konstitution (Größe, Gewicht) ihren wilden Verwandten entsprechen. Müller wählte aus 25 Wildkaninchen 8 Tiere und aus 29 Hauskaninchen 6 Tiere aus, deren Gewicht weitgehend übereinstimmte. Das der  8 Wildkaninchen betrug durchschnittlich 1725 g und das der 6 Hauskaninchen 1784 g.  Von diesen Tieren wurde jeweils die Körper- und Darmlänge ermittelt und und miteinander ins Verhältnis gesetzt.

Im ersten Schritt wurden nur jene Daten für das Verhältnis der Darm-und Körperlängen ausgewertet, die auch die Grundlage der Aussage von (Müller, 1919) bildeten. Dieser Auswahl lag die Überlegung von Müller zugrunde, für einen Vergleich der Proportionen nur Tiere aus der jeweiligen Population zu wählen, deren Körpergewicht weitgehend übereinstimmte. Die durchschnittliche Körperlänge der Wildkaninchen betrug 48,1 cm, ihre Darmlänge 463 cm. Daraus ergab sich ein durchschnittliches Verhältnis der Körper- zur Darmlänge von 1:9,6 (463:48=9,6). Die durchschnittliche Körperlänge der Hauskaninchen betrug 47,1 cm, ihre Darmlänge 408 cm, woraus sich ein durchschnittliches Verhältnis der Körper- zur Darmlänge von 1:8,66 ergab. Im Vergleich zum Wildkaninchen ist demnach bei der vorliegenden Datenauswahl der Darm des Hauskaninchens im Durchschnitt um 55 cm kürzer als der des Wildkaninchens.

Es erscheint oft zweckmäßig, Zahlen zu visualisieren, also bildlich darzustellen. Für die folgenden Betrachtungen bieten sich hier insbesondere "Boxplots" (auch "Whisker Chart" oder "Kastengrafik" genannt) an. Dabei handelt es sich um grafische Darstellungen der Lage, Konzentration und Variation von Datensätzen, die sich auf diese Weise leicht unterscheiden bzw. bewerten lassen. Eine Besonderheit des Boxplots ist die Darstellung des Median bzw. Zentralwerts als Lageparameter in der Box und nicht ein arithmetischer Mittelwert. Es gibt vier Bereiche der Daten, die als "Quartile" bezeichnet werden. 50% der Daten (2x25%) werden als zentraler Bereich bezeichnet und als "Box" (Kasten) dargestellt. Jeweils 25% bilden den unteren und oberen Bereich über diesem Kasten. In Statistiksoftware werden zudem noch so genannte "Ausreißer" ermittelt. Dabei handelt es sich um Werte, die nicht in erwarteter Weise in eine Messreihe passen bzw. auffällig zu dieser abweichen. Es gibt dafür verschiedene Berechnugsmethoden. Wichtig ist zu wissen, dass diese in einen arithmetischen Mittelwert einfließen würden, bei der Nutzung des Medians aber nicht.  

Bild 5:Verhältnis der Körper- zur Darmlänge von 8 Wild- und 6 Hauskaninchen mit annähernd gleichem Körpergewicht


In dem Boxplot sind die Verhältnisse der Körper- zur Darmlänge dargestellt. Wenn man nur die beiden Mediane (waagerechter Strich in der Box) der Auswahl der Populationen miteinander vergleicht wird schon auf den ersten Blick deutlich, dass das Verhältnis bei den Hauskaninchen deutlich kleiner ist, also der Darm im Verhältnis zum Körper deutlich kürzer als bei den Wildkaninchen ist. Was Ernst Müller in Bezug auf seine Auswahl an Wild- und Hauskaninchen und deren Unterschiede angab, war also korrekt (Hinweis: das Kreuz in der Box stellt den arithmetischen Mittelwert dar).

Ich habe jetzt also vorgeführt, dass die Zitierung von Ernst Müller durch Dr. W. Schlolaut korrekt ist. Und jetzt? Sie erinnern sich bestimmt, liebe Leser, dass Dr. W. Schlolaut insbesondere für größere Tiere, also Kaninchen, die schwerer als ihre wilden Artgenossen sind, ein tierschuztzrelevantes Problem sah, wenn man diese nicht mit Pellets ernährt. Denn die könnten nicht so viel fressen, um ihren Nährstoffbedarf zu decken. Weil der Darm ja kürzer als bei Wildkaninchen wäre. Was für gleich schwere Tiere zutrifft, müsste ja um so mehr bei schwereren Tieren zutreffen.

Was liegt also am nächsten? Genau, liebe Leser, Sie kommen auf den gleichen Gedanken wie ich - man nimmt einfach die Wildkaninchen und vergleicht deren Verhältnis der Körper- zur Darmlänge mit dem von Hauskaninchen, die deutlich schwerer als sie sind! Theoretisch müsste bei diesen mindestens das gleiche Missverhältnis bestehen, wenn nicht sogar noch schlimmer. Der "Kasten" müsste also mindestens auf der gleichen Höhe oder sogar noch tiefer als der der gleich schweren Hauskaninchen liegen.

Um es noch einmal deutlich zu formulieren: wenn schon bei gleich schweren Wild- und Hauskaninchen das Verhältnis der Körper- zur Darmlänge zeigt, dass der Darm des Huskaninchen ca. einen halben kürzer ist, müsste das bei Hauskaninchen, die schwerer als Wildkaninchen sind, mindestens im gleichen Maß festzustellen sein. Ansonsten würde die Begründung von Dr. W. Schlolaut, dass der Nährstoffbedarf von Hauskaninchen, die schwerer (größer) als Wildkaninchen nur mit Pellets zu erfüllen sei, keinen Sinn machen.

Also, liebe Leser - wir haben die gleiche Schlussfolgerung gezogen und ich habe für uns die Arbeit erledigt: ich habe die 8 Wildkaninchen mit 6 Hauskaninchen verglichen, die deutlich schwerer (größer) als die Wildkaninchen waren. Die Daten stammen natürlich auch aus der Arbeit von Ernst Müller. Die 8 Wildkaninchen wogen durchschnittlich 1725 g und die von mir ausgewählten, 6 Hauskaninchen 4519 g. Die Hauskaninchen waren also rund 2,5mal schwerer als die Wildkaninchen. Das folgende Bild zeigt das Verhältnis der Körper- zur Darmlänge dieser 8 Wild- und 6 Hauskaninchen.

Bild 6: Verhältnis der Körper- zur Darmlänge von 8 Wildkaninchen, 6 Hauskaninchen mit annähernd gleichem Körpergewicht und 6 Hauskaninchen, die im Mittel rund 2,6mal schwerer als die Wildkaninchen waren


Was Sie in dem Diagramm (Bild 6) sehen, liebe Leser, ist nun das genaue Gegenteil dessen, was von Dr. Schlolaut behauptet wurde: der Verdauungstrakt von Hauskaninchen, die schwerer als Wildkaninchen sind, ist im Verhältnis zur Körpergröße länger und hat somit auch eine größere Aufnahmekapazität. Nehmen wir die Schlussfolgerung von Dr. Schlolaut noch hinzu, müssen also Hauskaninchen, die schwerer als Wildkaninchen sind, eben nicht mit Pellets ernährt werden. Diese Feststellung kann anhand der Werte der gleichen Arbeit von Ernst Müller aus dem Jahr 1919, die von Nachtsheim & Stengel, 1977 sowie von Schlolaut, 2003 zitiert wurde, getroffen werden.

Zusammenfassung
In diesem Artikel wurde die Behauptung geprüft, dass das Fassungsvermögen der Verdauungsorgane (Dünn- und Dickdarm) von Hauskaninchen im Vergleich zu Wildkaninchen kleiner wäre, weil die Darmlänge von Hauskaninchen im Vergleich zum Wildkaninchen um einen halben Meter verkürzt wäre. Aus diesem Grund wären vor allem schwerere Hauskaninchen auf Konzentratfuttermittel wie Pellets angewiesen. Die Behauptung stützt sich auf Werte einer Arbeit von Ernst Müller aus dem Jahr 1919, die verschiedene Mängel aufweist und sie ist in dieser pauschalen Darstellung falsch. Laut den Daten und der von E. Müller ausgewählten, gleich schweren Kaninchen träfe sie zu, aber nicht für Hauskaninchen, die schwerer als Wildkaninchen. Deren Darm ist nach den Daten im Verhältnis zum Körper länger als vergleichsweise bei Wildkaninchen.

Wie es zu den Ergebnissen von kam und was der Mangel in der Arbeit von Ernst Müller war, erkläre ich im nächsten Artikel. Also bleiben Sie schön neugierig und interessiert!

Teile dieses Artikels wurden in der "Kaninchenzeitung" veröffentlicht (Rühle, 2015a; Rühle 2015b).

Quellen:
  • Eylert, J. (2004): Bleibt das Wildkaninchen auf der Strecke? LÖBF-Mitteilungen 01/2004. 22-25
  • Müller, E. (1919): Vergleichende Untersuchungen an Haus- Wildkaninchen. Berlin : Zool. Inst. der Königl. Landwirtsch. Hochschule. Dissertation
  • Nachtsheim, H. & Stengel, H. (1977): Vom Wildtier zum Haustier. 3., neubearb. Aufl.  Berlin, Hamburg: Parey. ISBN 3-489-60636-1
  • Rühle, A. (2015a): Mehr Kapazität als gedacht. Das Fassungsvermögen der Verdauungsorgane von Haus- und Wildkaninchen. Kaninchenzeitung. Teil 1. Ausgabe 3/4|2015. Seite 16-20
  • Rühle, A. (2015b): Mehr Kapazität als gedacht. Ernährung von Kaninchen: Natürliche Varianz statt monotone Pellets. Teil 2. Ausgabe 5/6|2015- Seite 48-51
  • Schlolaut, W. (2003): Das große Buch vom Kaninchen. 3., erw. Aufl. Frankfurt/M.: DLG-Verlag. ISBN 3-7690-0592-9

Artikel

Qualität und Quantität (2)