Wenn man sich mit der Ernährung von Heimkaninchen beschäftigt, sind vor allem folgende Fragen interessant:
- Was fressen Wildkaninchen als natürliche Artgenossen der Hauskaninchen?
- Warum fressen Kaninchen das, was sie fressen?
1. Was fressen Wildkaninchen
Für die Nahrung von Wildkaninchen finden sich Informationen, die weitgehend übereinstimmen. Demnach fressen sie vorwiegend frische Gräser und Kräuter sowie Laub, Zweige und Rinden verschiedener Bäume und Sträucher, Wurzeln, Baumnadeln, Pilze, Moose, Früchte sowie die Samen verschiedener Pflanzen. Diese Aufzählung ergibt sich daraus, was bei Wildkaninchen nachgewiesen wurde und spiegelt natürlich nicht zwingend die Hauptnahrung. Diese besteht in Europa weitgehend aus den jungen Trieben bzw. den grünen, frischen und jungen Blättern von Gräsern und Kräutern. Die folgende Grafik zeigt die Verteilung von Nahrungspflanzen von Wildkaninchen von Frühjahr bis Herbst und im Winter in Mitteleuropa. Die gemittelten Daten stammen von zwei Untersuchungsgebieten. (Homolka, 1985 und Homolka, 1988, siehe Literaturverzeichnis). Der Zeitraum "Frühjahr-Herbst" umfasst die Monate IV-XI, der "Winter" die Monate XII-III.
Von Frühjahr bis Herbst enthält die Nahrung der Wildkaninchen 92% frisches Grün, im Winter 77%. Dazu kommen noch jeweils 2% bzw. 16% Samen. Diese Komponenten ergeben in Summe jeweils für das Frühjahr bis Herbst 94% und für den Winter 93% der gesamten Nahrung. Der Rest sind dann jeweils die Komponenten, die in der Literatur auch für das aufgeführt werden, was Wildkaninchen fressen. Diese machen aber eben nur einen sehr geringen Anteil in der gesamten Nahrung aus. Damit hat sich theoretisch die Frage erledigt, was man Hauskaninchen "ad libitum" anbieten sollte und ich könnte den Beitrag an dieser Stelle beenden.
Die Nahrung des Wildkaninchens in Europa besteht im Jahr saisonabhängig zu über 90% aus verschiedenen, frischen Grünpflanzen (Gräser, Kräuter, Schößlinge) und zu ca. 4% aus Samen.
2. Warum fressen Kaninchen eine bestimmte Nahrung?
Evolutionär bedingt weist das Kaninchen einige Besonderheiten auf, die sich aus der Nahrung ergeben und diese bedingen. Die folgende Grafik zeigt eine vereinfachte Zeitleiste der wichtigsten evolutionären Ereignisse, die den Ursprung der Lagomorphen betreffen (aus Böhmer & Böhmer, 2017; Ausschnitt, Creative Commons Attribution (CC BY) license (https://creativecommons.org/licenses/by/4.0/).
Ein Kurzer Blick zurück ...
2008 habe ich mit meiner Webseite versucht, diesen Trend für Heimtierhalter zurück zu altem Wissen über die natürliche Nahrung und der Fütterung des Kaninchens zu lenken und 2009 ein Buch darüber veröffentlicht. Anfängliche Widerstände aus dem Tierschutz wie auch von Züchtern wurden bald durch positive Erfahrungsberichte von Kaninchenhaltern überlagert und meine Darstellungen fanden größere Verbreitung. Leider gab es dann auch hier wieder einige Abwege, die durch ein falsches Verständnis von Zusammenhängen und einem fehlendem Hintergrundwissen eher geeignet sind, in die Irre zu führen. Denn jede Umdeutung führt unweigerlich wieder zu den gleichen Problemen, die schon vorher bestanden. Aus diesem Grund schrieb ich 2017 ein weiteres Buch, welches sich ausschließlich mit der Ernährung, deren Nutzen und mögliche Auswirkungen auf Kaninchen beschäftigt.
Ein Hauptproblem stellen die Mengen und die Beschaffung der arttypischen Nahrung dar. Es wurden und werden ganz verschiedene Argumente genannt, warum das Sammeln grüner Pflanzen nicht möglich sei: die Wohnsituation, Verfügbarkeit grüner Flächen in der Umgebung, fehlende Zeit, Angst vor "falschen" Pflanzen oder Angst vor der Einschleppung pathogener Keime. Das wird sich nie ändern und deshalb sucht man nach Alternativen.
Weil das Kaninchen Pflanzenfresser ist, wird allgemein angenommen, dass man die arttypische Nahrung weitgehend durch andere pflanzliche Futtermittel ersetzen kann, selbst durch offensichtlich minderwertige. So sieht die Tierärztliche Vereinigung für Tierschutz (TVT) z. B. offenbar keinen allzu großen Unterschied zwischen getrockneten und frischen Grünpflanzen: "Grundfutter für Kaninchen sind frische oder getrocknete Pflanzenteile (frischer Wiesenschnitt bzw. hochwertiges Heu)." (TVT, 2019; Hervorhebung A. R.)
Das Merkblatt der TVT, 2019 wurde von einem "Sachverständigengremium" zur Darstellung der Bedürfnisse dieses Heimtieres vor dem Hintergrund der Anforderungen des § 2 TierSchG erstellt. Wenn das in der "Präambel" nicht ausdrücklich erwähnt worden wäre, hätte ich angenommen, dass es von einer Tierschutziniative erstellt wurde. So passt z. B. auch die Erklärung in dem Merkblatt, dass Trockenfutter nur nach Rücksprache mit dem kaninchenkundigen Tierarzt in Zeiten erhöhten Energiebedarfs (Trächtigkeit, Laktation, Rekonvaleszenz und Minusgrade bei Außenhaltung) notwendig werden können.
Weitere Alternativen können Gemüse und Obst sein. Von einigen Haltern werden noch Stroh und Äste in der Ernährung aufgeführt.
Nur wenigen außerhalb der organisierten Kaninchenzucht wird bekannt sein, dass viele Kaninchenzüchter trotz des Aufkommens der Trockenfutter eine ganz ähnliche Ernährung von Kaninchen präferieren, wie sie heute von der TVT, Tierschützern oder Tierhaltern propagiert wird. Das Bild zeigt einen Ausschnitt aus einem Artikel von W. Krause in der Zeitschrift "Deutscher Kleintier Züchter", Ausgabe "Kaninchen" aus dem Jahr 1981:
Anmerkung: bei "Hackfrüchten" handelt es sich z. B. um Kartoffeln, Rübengewächse sowie Feldgemüse wie Kohl und Ackerbohnen. Als "Kraftfutter" wurden z. B. Getreide, Saaten bzw. Produkte aus diesen, Zuckerschnitzel, Treber und Malzkeime bezeichnet.
Das Heu als "Brot des Kaninchens" aus dem Jahr 1981 ist im Prinzip das gleiche, was noch 2009/2010 an der LMU München als "wichtigstes Element der Ernährung" von Herbivoren gelehrt wurde: "Heu, Heu und noch mal Heu" (LMU, 2009).
Im Prinzip enthalten die heutigen Empfehlungen für die Ernährung von Kaninchen, von wem auch immer, die gleichen Komponenten, wie sie auch früher in der Mast und Zucht von Kaninchen eingesetzt wurden. Der einzige Unterschied ist die Frage, ob Kraft- bzw. Trockenfutter, wie sie heute üblich sind, dazugehören. Dieser Unterschied wird teilweise dadurch aufgeweicht, dass verschiedene "Saaten" rationiert empfohlen werden. Auch industrielle Trockenfutter sind mittlerweise wieder "erlaubt", solange sie nur getreidefrei sind und natürlich streng rationiert angeboten werden - also nicht "ad libitum".
Fortsetzung folgt ...