Freitag, 26. Januar 2018

Die Kastration von Kaninchen, Teil 1

Jüngst gab es in einer Facebookgruppe wieder eine Diskussion zur Kastration von Kaninchen. Insbsondere zwei Damen fielen mehr durch Unkenntnis und Pöbeleien auf, als durch ein wirkliches Interesse an Informationen. Das Weltbild der beiden ist dermaßen fest zementiert, dass ich da keine Möglichkeit sehe, irgend etwas im Sinn der Tiere zu verändern. Interessanterweise verschwanden die Damen am nächsten Tag samt ihren Beiträgen aus der Gruppe. Es bleibt die Hoffnung, dass sie wohl später selbst erkannten, dass sie da mehr zerdeppert als gerichtet hatten. Trotzdem werde ich versuchen, auf einige Aussagen der beiden aus dem Gedächtnis nachträglich einzugehen, weil ja sicher viele mitgelesen haben und nicht die Zeit blieb, auf die teilweise grusligen Feststellungen der beiden Trolle (Trollinnen?) entsprechend einzugehen. Es folgen also sinngemäße Wiedergaben (in blau) mit entsprechenden Darstellungen dazu meinerseits.

"Es gibt Studien in jüngster Zeit, die belegen, dass die (Früh-)Kastration von Kaninchen sinnvoll ist"
Ich kenne keine Studien, die so etwas belegen würden, was aber erst einmal nichts bedeuten muss. Merkwürdig wäre es allerdings schon, wenn mir solche entgangen wären, weil ich mich sehr intensiv mit Fachliteratur beschäftige. Auf mehrmalige Nachfrage nachj solchen Studien wurde aber nicht reagiert. Mir würde ja die Quellenangabe reichen, das Material besorge ich mir schon selbst. Es gibt aber z. B. Literatur (auch Studien) über Kaninchen und deren Kastration, der Bedeutung der Geschlechtshormone sowie deren Einfluss auf den Organismus und was passiert, wenn diese auf einmal nicht mehr in ausreichender Menge produziert werden. Das ist ja bei einer Kastration der Fall. Ich hatte das zum Teil bereits in diesem Blogbeitrag beschrieben (Einfluss auf Knochendichte, Kastration weiblicher Kaninchen) sowie auf meiner Webseite (Kastration). Ich werde dort in Kürze die ganzen Informationen zusammenführen.

Der einzige deutsche Pro-Kastrations-Artikel, den ich kenne und der auch von einer der Damen in der Facebookgruppe verlinkt wurde, ist die Veröffentlichung eines Tierarztes, genauer von Dr. B. Lazarz, der sich für die Kastration ausspricht, insbesondere auch einer Frühkastration. Der Artikel erschien 2006 in der Zeitschrift "Rodentia" und ist auf der Webseite der Tierarztes zugänglich. Bei dieser Veröffentlichung handelt es sich nicht um eine wissenschaftliche Arbeit, sondern um eine Meinungsäußerung. Die Zeitschrift "Rodentia" ist vergleichbar mit der "Kaninchenzeitung", bietet aber noch für andere Tierarten Informationen.

Der Artikel ist recht kurz gehalten, mehr Information zum Thema  "Kastrieren oder nicht kastrieren?" finden sich auf der Webseite des Autors. Wenn man sich zu diesem Thema, insbesondere eben auch zur Frühkastration äußert, sollte man erwarten können, dass zumindest ein Basiswissen zur Tierart vorhanden ist. Deshalb ist die folgende Angabe auf der Webseite von B. Lazarz fragwürdig oder genauer - sie ist falsch: "Diese [Geschlechtsreife, A. R.] beginnt abhängig von der Rasse mit 4 bis 6 Monaten bei Zwerg- und mittelgroßen Rassen und mit bis zu 9 Monaten bei Riesenrassen." Die Geschlechtsreife wird bei Kaninchen, unabhängig von der Rasse, mit einem Alter von 3-4 Monaten erreicht und ist natürlich vom Individuum abhängig. Im Alter von 9 Monaten dagegen gelten Kaninchen als ausgewachsen, für den Menschen ist das ein Alter von ca. 21 Jahren, wobei das Gehirn bei ihm erst mit 25 Jahren "fertig" ist. Kaninchenzüchter sprechen, neben der Geschlechtsreife, von einem so genannten "Zuchtalter", welches dem entspricht, mit dem ein Kaninchen ausgewachsen ist, also 9 Monate. Wenn die Riesenrassen erst mit 9 Monaten geschelchtsreif werden würden, könnte man die auch erst mit 9 Monaten kastrieren - ich bezweifle aber, dass die Riesenrammler solange mit ihren Revierstreitigkeiten warten... Wie auch immer - auf der Webseite wird nun folgendes erklärt:

"Wir wollen mal schauen, warum ein Kaninchen kastriert wird, und ob es möglicherweise für Euer Kaninchen infrage kommt. [...]
- Verhütung von Schwangerschaft
- Verhütung von Gebärmutterkrebs
- Verhütung von Scheinschwangerschaften
- Verhütung von Brustdrüsenerkrankungen
- Verhütung von aggressivem Verhalten
- Verhütung von von Urin spritzen
- Verhütung von Hodenerkrankungen
"
(Quelle: Dr. Lazarz, 2018: "Kastrieren oder nicht kastrieren?")

Verhüten, verhüten und nochmals verhüten ...

In dem erwähnten Artikel in der Rodentia wurde vom Autor auch auf die USA verwiesen: "In Deutschland ist im Gegensatz zu den USA die Kastration der Häsin noch nicht an der Tagesordnung, wird sich aber in Zukunft wohl ähnlich wie die Kastration der weiblichen Katze auch bei uns zur Selbstverständlichkeit entwickeln.".Lazarz, 2006). Oh ja, die USA - das Land der unbegrenzten Möglichkeiten. "Debarking" und "Declawing" sind dort (in einigen Staaten) ja auch "Verhütungsmethoden", die interessant klingen. Hunde, die nicht mehr bellen und Katzen ohne Krallen, damit die Designermöbel der Tierschützer nicht zerkratzt werden - und das alles natürlich nur zum Wohl der Tiere, selbstverständlich.

Damit kämen wir zu einem Punkt, der in der Facebookgruppe hätte diskutiert werden können - bei einem wirklichen Interesse und nicht einfach nur einer Darstellung der eigenen, eingebildeten, korrekten, moralischen Meinung. Denn warum ein Kaninchen in Deutschland kastriert wird bzw. kastriert werden darf, entscheidet nicht allein die Meinung eines Tierarztes, sondern zunächst einmal das Tierschutzgesetz. Dieses gilt nämlich auch für Tierärzte und Tierschützer und völlig unabhängig von einem subjektiven Rechtsempfinden. In der Facebookgruppe wurde u. a. sinngemäß folgendes erklärt: 

"Das Kaninchen nicht prophylaktisch bzw. frühkastriert werden dürfen, stimmt nicht. Das steht im Tierschutzgesetz §6, Abs. 5" und außerdem "Kastration = Amputation - so ein Quatsch"
Aus den Beiträgen der beiden Damen wurde deutlich, dass sie die Inhalte von Gesetzen und deren Anwendung bwz. Interpretation nicht kennen oder verstehen. Deswegen möchte ich das an dieser Stelle etwas ausführlicher darstellen. Das Thema "Eingriffe an Tieren" im Tierschutzgesetz, welches auch die "Amputation" behandelt, findet sich in §6. Und ja - die Kastration ist eine Amputation, auch wenn Tierschützer das nicht so gern hören.

Begriffe

Es folgen einige Begriffsdefinitionen:

"2. Begriffe. 
a) Amputation ist die beabsichtigte Entfernung (Absetzung, Abtrennung) emes Teils des Körpers. Sie ist nicht beschränkt auf Gliedmaßen, an die in der Umgangssprache vornehmlich gedacht wird. Organe sind aus Zellen und Geweben zusammengesetzte Teile des Körpers, die eine Einheit mit bestimmten Funktionen bilden. Gewebe sind Zellverbände, die den Körper aufbauen und denen eme bestimmte Funktion zugeschrieben wird, auch Knochengewebe.

b) Gewebestörung. Die kleinste, von § 6 gemeinte Einheit ist somit das Gewebe. Die Entfernung und die Zerstörung von Geweben oder Teilen von Geweben können unter dem Begriff "Störung" zusammengefasst werden. Die traditionell "Amputationsverbot" genannte Untersagtmg des § 6 I 1 ist danach richtigerweise das Verbot der Gewebestörung." (Lorz, 2008, Rn 5-6).[...] Gewebestörungen sind alle in Abs 1 Satz 2, Abs 3 genannten Eingriffe wie das Kastrieren, Enthornen, Kürzen des Schwanzes, des Schnabels (OVG Münster RdL 1995, 46: Flugenten) und der Zähne, Tätowieren und Anbringen von Ohr- und Flügelmarken." (Lorz, 2008, Rn 8).

Das Tierschutzgesetz, 2017 beginnt im Vierten Abschnitt zum Thema Eingriffe an Tieren in §6, Absatz 1  folgendermaßen:

"(1) Verboten ist das vollständige oder teilweise Amputieren von Körperteilen oder das vollständige oder teilweise Entnehmen oder Zerstören von Organen oder Geweben eines Wirbeltieres. Das Verbot gilt nicht, wenn [...]". (TierschG, 2017)

Diese Formulierung nennt man ein "Verbot mit einem Erlaubnisvorbehalt". Das heißt, etwas ist grundsätzlich verboten, aber es werden verschiedene Ausnahmen aufgezählt, für die das Verbot nicht gilt. Umgekehrt bedeutet das, dass eine Kastration natürlich erlaubt ist, aber eben nur für die ausdrücklich genannten Aunahmen. Mit noch anderen Worten: eine pauschale Amputation (Kastration) ist verboten. Dazu noch einmal ein Zitat aus den Kommentaren von Lorz, 2008, Rn 9:

"Amputationen und andere Gewebestörungen außer den ausdrücklich zugelassenen sind im Regelungsbereich der §§ 5 und 6 untersagt. Das gilt unabhängig davon, ob ein vernünftiger, etwa ein wirtschaftlicher, Grund für die Entfernung des Körperteils geltend gemacht werden kann. Daher ist auch keine Erweiterung der Ausnahmefälle auf andere möglich [...]. Ob der betreffende Körperteil fiir das Verhalten oder die Existenz des Tiers entbehrlich ist, hat keine Bedeutung, ebenso wenig Haltungserleichterungen nach der Entfernung des Körperteils (OVG Münster RdL 1995, 46).". (Hervorhebung A. R.)

Die Ausnahmen zum Amputationsverbot im Tierschutzgesetz

Die Ausnahmen, welche für die Kaninchenhaltung relevant sein können, sind die folgenden - das heißt also, das Verbot gilt nicht, wenn:

"1. der Eingriff im Einzelfall
   a) nach tierärztlicher Indikation geboten ist

[...]
3. ein Fall des § 5 Abs. 3 Nr. 2 bis 6 vorliegt und der Eingriff im Einzelfall für die vorgesehene Nutzung des Tieres zu dessen Schutz oder zum Schutz anderer Tiere unerläßlich ist,
[...]
5. zur Verhinderung der unkontrollierten Fortpflanzung oder - soweit tierärztliche Bedenken nicht entgegenstehen - zur weiteren Nutzung oder Haltung des Tieres eine Unfruchtbarmachung vorgenommen wird."

zu 1. "tierärztliche Indikation"
Eine tierärztliche Indikation bedeutet nach Wiesner & Ribbeck, 2000 ein Rechtfertigungsgrund für die Durchführung gezielter diagnostischer, therapeutischer und prophylaktischer Maßnahmen und Verfahren bei einer Erkrankung, die durch deren Ätiologie, Pathogenese, Pathophysiologie, Intensität und Verlauf bestimmt wird. Im Pschyrembel, 2002 wird eine Indikation ganz ähnlich definiert als: "Grund zur Anwendung eines bestimmten diagnostischen oder therapeutischen Verfahrens in einem Erkrankungsfall, der seine Anwendung hinreichend rechtfertigt ...". (Hervorhebung A. R.)

Das heißt also ganz simpel, dass dem Tierarzt ein erkranktes Tier (ein Patient) vorgestellt wird und er entscheiden muss, ob für den jeweiligen, vorliegenden Erkrankungsfall eine Kastration medizinisch sinnvoll, vertretbar und somit zulässig ist. Im Ernstfall (z. B. bei einer Anzeige) muss er nämlich begründen können, warum die Kastration aus seiner Sicht zulässig war. Deswegen lautet mein Rat an jeden Tierarzt, jede Kastration in einem Krankheitsfall gut zu dokumentieren. Denn auch die Nachweispflicht ist im TierschG geregelt.

In den zwei Kommentaren zum TierschG wird übereinstimmend festgestellt, dass "Verhütung" oder "Vorbeugung" keine Indikation darstellen: "Keine Indikation im Einzelfall liegt vor, wenn es nur um die Bekämpfung denkbarer, künftiger Erkrankungen oder Verletzungen geht [...] Erst recht keine Indikation ist gegeben, wenn hauptsächlich Erleichterungen für die Haltung oder Nutzung angestrebt werden" (Hirt, et al., 2007); "Keine Indikation löst der bloße Wunsch aus, einer denkbaren künftigen Erkrankung vorzubeugen [...] Ebenso wenig die bloße Haltungserleichterung [...].". (Lorz & Metzger 2008), alle Hervorhebungen A. R..

Damit wird klar, dass alle Argumente in Bezug auf mögliche Krankheiten, die mit "Verhütung" beginnen, hinfällig sind. Damit kommen wir zu einem weiteren Argument aus der Facebookdiskussion.

"Dann würden ja viele Tierärzte gegen geltendes Recht verstoßen, was nicht vorstellbar ist.". Tatsächlich macht sich ein Tierarzt theoretisch strafbar, wenn er ohne vernünftigen Grund ein Tier kastriert. Der vernünftige Grund wird nicht durch subjektive Moralvorstellungen oder Meinungen bestimmt. Das gilt nicht nur für Kaninchen. Mir persönlich fällt zum Beispiel kein vernünftiger Grund für die Frühkastration von Tieren ein. Der Tierarzt hat für diesen Fall ja in der Regel noch keinen "Patienten", für den eine Indikation erfolgen könnte. Kastration zum Zweck der "Verhütung" ist nicht zulässig - also schließt das Tierschutzgesetz einen solchen Eingriff an Kaninchen, die noch nicht geschlechtsreif sind, sowieso aus. Aber: wo kein Kläger, das kein Richter. Mir ist klar, dass die "Frühkastration" in Deutschland gängige Praxis ist. Sie wird es aber nur solange sein, bis ein wirklicher Tierschützer diese Praxis vor ein Gericht bringt und somit einen Präzedenzfall schafft.

Die Indikation muss ja nicht immer zwangsläufig zu einer Kastration führen, im Gegenteil - sie kann sogar dazu führen, dass nicht kastriert werden darf. 1996 wurde am Amtsgericht zu Alzey ein solcher Fall verhandelt. Besonders perfide daran war, dass in einem "Übernahmevertrag" eine "Kastrationsklausel" enthalten war, die festlegte, dass Tiere pauschal zu kastrieren seien und an dieser auch noch festgehalten wurde, obwohl ein großes Risiko für die Operation bestand. In dem folgenden Auszug des Urteils habe ich Namen, Seitenumbrüche und nicht relevante Teile entfernt. Die schlechte Lesbarkeit bitte ich zu entschuldigen, aber die Unterlagen, die mir das Gericht auf Anfrage zusandte, waren von suboptimaler Qualität.

Bild 1: Auszug aus dem Urteil des Amtsgerichts Alzey, Aktenzeichen 22 C 903/95 vom 14.06.1996


Aus der Urteilsbegründung wird deutlich, dass das Gericht in erster Linie auf den Zweck des Gesetzes abzielte, nämlich auf die Erhaltung der Unversertheit des Tieres und der Abwendung möglicher Schäden durch z. B. den Eingriff an sich wie auch mögliche, anschließende wie die Gewichtszunahme. Auf mögliche Ausnahmen wurde gar nicht mehr eingegangen.

Klauseln in irgendwelchen Verträgen auch von Tierschutzorganisationen, die eine pauschale Kastration fordern, sind somit hinfällig, weil sie eben nicht das Tierschutzgesetz mit seinem Erlaubnisvorbehalt berücksichtigen (können). Ich denke, dass ist aus dem Inhalt der vorstehenden Informationen deutlich geworden. Aber ich schreibe es vorsichtshalber noch einmal hin: die Unversertheit des Tieres steht für den Gesetzgeber an oberster Stelle - und das ist gut so. Egal, was in Amerika gemachr wird.

2017 wurde in der Zeitschrift "Kleintier Konkret" ein Artikel von S. Gabriel veröffentlicht, der sich mit Techniken der Kastration männlicher Heimtiere, u. a. auch mit dem Kaninchen, beschäftigt. In der Einleitung heißt es:

"Die Kastration des männlichen Heimtiers ist eine häufig vorgenommene Routineoperation in der Heimtierpraxis. Der Eingriff dient nicht nur der Unfruchtbarmachung, sondern ist, vor allem beim Kaninchen, auch eine wichtige Voraussetzung zur Gesellschaftshaltung, weil unkastrierte Rammler mit Eintritt der Geschlechtsreife unverträglich gegen Geschlechtsgenossen werden, markieren und den unangenehmen Geschlechtsgeruch entwickeln. Damit liegt eine rechtfertigende Indikation im Sinne des § 6 Abs. 1 TSchG vor." Die rechtfertigende, tierärztliche Indikation kann natürlich nur für den erst genannten Punkt (Unverträglichkeit) vorliegen, nicht aber für die anderen, genannten Gründe. Bei diesen handelt es sich um solche, die die Haltungsbedingungen betreffen und unangenehm für den Menschen sind, aber nicht die Gesundheit männlicher Tiere betreffen. Da die Kastration nach § 631 BGB als Werkvertrag gesehen wird, schuldet der Tierarzt neben der korrekten Indikationsstellung auch den Operationserfolg und die Durchführung nach dem neuesten Erkenntnisstand der Veterinärmedizin. Die TVT (Tierärztliche Vereinigung für Tierschutz e.V.) empfiehlt in ihrem Merkblatt Nr. 120 zur Dokumentation der Aufklärung über mögliche Operationsrisiken und zur Abwendung eventueller Regressansprüche ein entsprechendes Dokumentationsformular zu verwenden."

Die "rechtfertigende, tierärztliche Indikation" ist allerdings nicht für alle der aufgeführten Gründe für eine Kastration zutreffend, sondern nur für den erstgenannten, nämlich der (möglichen) Unverträglichkeit unkastrierter Rammler in gemeinschaftlicher Haltung. Markierverhalten und dem Menschen unangenehme Gerüche dagegen sind tierartspezifische Eigenschaften und somit nicht "wegzuoperieren". Die haben vom Halter akzeptiert zu werden. Als Alternative wären Plüschhasen empfehlenswert.

Das Merkblatt Nr. 120 der "Tierztliche Vereinigung für Tierschutz" (TVT) wurde für Hunde und Katzen erstellt, ist aber in weiten Teilen auch für Kaninchen zutreffend. Dort heißt es u. a.:

"Eine Kastration aus veterinärmedizinischer Indikation stellt eine Therapie für eine diagnostizierte Erkrankung dar, wie z.B. Tumoren von Ovar, Uterus oder Hoden. Somit handelt es sich um eine kurative Kastration. In der Mehrzahl der Fälle wird jedoch der Wunsch nach einer Kastration aus nicht medizinisch indizierten Gründen geäußert. Als Gründe werden die Vermeidung der Fortpflanzung oder potentieller Erkrankungen sowie eine Erleichterung der Haltung angeführt. Es handelt sich in diesen Fällen um eine elektive [bewusste Auswahl einer ärztlichen Handlung, Anm. A. R.] Kastration, die eine Abwägung erfordert, ob im konkreten Fall (Einzelfall) durch Veränderungen in der Haltung, durch eine verhaltenstherapeutische Behandlung oder eine medikamentelle (hormonelle) Beeinflussung der Läufigkeit der Hündin bzw. der sexuellen Hyperaktivität oder der Aggressivität des Rüden der gleiche Effekt erzielt werden kann. Besonders in letzterem Fall ist durch die Applikation eines entsprechenden Medikaments die Ursache der Aggressivität einzugrenzen, denn durch die Absenkung des Testosteronspiegels wird nur das durch dieses Hormon stark beeinflusste Verhalten verändert. [...] Der Halter ist über mögliche Operationsrisiken und nachfolgende Nebenwirkungen aufzuklären. Um Regressforderungen zu vermeiden, empfiehlt es sich, ein spezielles Formular zu verwenden, auf dem auch die möglichen Komplikationen aufgeführt sind, das vom Halter unterschrieben wird." (TVT, 2011), Hervorhebungen A. R.

Ich möchte es mal so formulieren: nach dem, was ich von verschiedenen Tierärzten gehört und gelesen habe, bewegen sich viele auf einem Minenfeld. Sie wissen es nur nicht. Bisher sind sie auf keine drauf getreten. Merkblätter des TVT werden übrigens auch in den Kommentaren zum TierSchG angeführt. Zu den Risiken einer Kastration bei Hunden und Katzen gibt sich das Merkblatt sehr zurückhaltend, wenn auch ausführlicher als die meisten Tierärzte.

Weil ich nun gerade bei Kastrationsrisiken bin: üblicherweise wird bei solchen immer nur die Operation betrachtet - nie die möglichen Folgeschäden. Die werden geflissentlich ausgeblendet. Entweder sind sie nicht bekannt, was für einen Tierarzt ein Armutszeugnis wäre und auch seine Auskunftspflicht verletzen würde oder sie werden bewusst verschwiegen.

Ein ganz bemerkenswertes Buch zu diesem Thema schrieb zum Beispiel  Gabriele Niepel bereits 2007. Bei einem großen Online-Buchhändler kann man dazu zwei "kritische" Bewertungen lesen, die mich in puncto "Niveau" an die erwähnten zwei Damen aus der Facebookgruppe erinnern.

2014 wurden Ergebnisse aus einer Langzeituntersuchung über die Folgen der Kastration von Hunden veröffentlicht. Dieser Artikel ist besonders für faule Rechercheure interessant, weil er bereits in der Einleitung eine Masse an Informationen liefert, deren Inhalt einen äußerst nachdenklich zurücklassen. Wer jetzt meint, es geht ja hier um Hunde und nicht um Kaninchen, sollte sich vergegenwärtigen, dass viele Prozesse im Organismus von Säugetieren vergleichbar sind, vor allem hormonelle. Ich übersetze mal die wichtigsten Passagen aus der Einleitung. Die Zahlen in den eckigen Klammern sind die Quellenangaben im Original die ich mit aufführe, damit Interessierte diese im Quellenverzeichnis des Artikels einfacher finden können, der hier öffentlich zugänglich ist. "Intakt" bedeutet in den Beschreibungen "nicht kastriert":
  • eine Studie über Osteosarkome (OSA, bösartiger Knochentumor) bei mehreren Rassen ergab einen Anstieg um das Doppelte bei kastrierten Hunden im Vergleich zu intakten Hunden [5]
  • Bei Rottweilern, die vor dem 1. Lebensjahr kastriert wurden, stieg das Auftreten von OSA auf das 3-4-fache im Vergleich zu intakten Hunden an [6]. 
  • Eine Studie über das kardiale (das Herz betreffend) Hämangiosarkom (HSA) bei kastrierten Weibchen ergab, dass die Inzidenz für diesen Krebs viermal größer war als die von intakten Weibchen [7] 
  • eine Studie über HSA der Milz bei kastrierten Weibchen fand Raten, die 2 mal höher als bei intakten Weibchen war [8]. 
  • Eine Studie zum Lymphosarkom (LSA, Lymphom, bösartige Neubildung lymphatischer Zellen z. B. in den Lymphknoten, Mandeln, der Milz oder Stammzellen im Knochenmark) ergab, dass kastrierte Weibchen eine höhere Inzidenz für diese Erkrankung aufwiesen als intakte Weibchen [9]. 
  • Für kutane Mastzelltumoren (MCT) wurde eine Zunahme der Inzidenz bei kastrierten Weibchen auf das Vierfache im Vergleich zu intakten Weibchen festgestellt [10]. 
  • Prostatakrebs wird beim Hund im Gegensatz zum Menschen durch die Entfernung von Testosteron potenziert. Eine umfangreiche Studie ergab, dass dieser Krebs bei kastrierten Rüden viermal häufiger auftrat als bei intakten Rüden [11]. 
  • Der am häufigsten erwähnte Vorteil der Frühkastration von Hündinnen ist der Schutz vor Brustkrebs (MC) [12]. Eine kürzlich veröffentlichte Metaanalyse über kastrierte Weibchen und MC ergab jedoch, dass der Beweis, dass die Kastration mit einem verringerten Risiko für MC verbunden wäre, nur schwach ist [13].
  • in einer umfassenden Studie über die Kastration von 759 Golden Retrievern wurden die Auswirkungen der Kastration bei Rüden und Weibchen untersucht, die früh kastriert (< 1 Jahr) und spät kastriert (> 1 Jahr) wurden [14]. Fast 10 Prozent der früh kastrierten Rüden wurden mit LSA diagnostiziert, 3 mal mehr als intakte Rüden. Es gab keine Fälle von MCT bei intakten Weibchen, aber bei spät kastrierten Hündinnen lag die Rate bei fast 6 Prozent. Die Inzidenz von HSA bei spät kastrierten Weibchen war ebenfalls höher als bei intakten Weibchen.
  • Eine Studie unter Verwendung einer veterinärmedizinischen Datenbank mit über 40.000 Hunden ergab, dass kastrierte Rüden und Weibchen häufiger an Krebs sterben als intakte Hunde, insbesondere an OSA, LSA und MCT [15]. 
  • In einer Studie über Vizslas wurde das Auftreten von Krankheiten in einer Online-Umfrage unter Haltern ermittelt. In dieser war die Inzidenz von Krebserkrankungen bei kastrierten Hunden höher als bei intakten Hunden [16]. Die wichtigsten Krebsarten im Zusammenhang mit der Kastration waren LSA, HSA und MCT. Das Vorkommen von MC war sehr gering bei intakten Weibchen. 
  • In einer Studie [14] wurden Gelenkerkrankungen untersucht. Von den früh kastrierten Rüden wurden 10 Prozent mit Hüftdysplasie (HD) diagnostiziert, doppelt so viel wie intakte Rüden. Es gab keine Fälle von CCL bei intakten Rüden oder Weibchen, bei früh kastrierten Rüden und Weibchen lag das Vorkommen aber bei 5 Prozent und 8 Prozent.
  • In einer eigenen, früheren Studie über die Auswirkungen der Kastration wurde von den Autoren festgestellt, dass sich die Inzidenz von zwei Gelenkerkrankungen und drei Krebsarten deutlich erhöht hatte. In der neuesten Studie wurden über einen Zeitraum von 13 Jahren die Auswirkungen der Kastration in bestimmten Altersbereichen untersucht: vor 6 Monaten, zwischen 6-11 Monaten, nach dem 1. Jahr und im Bereich vom 2. bis zum 8 Lebensjahr. Die untersuchten Gelenkerkrankungen waren Hüftdysplasie, Schädelkreuzbandriss und Ellenbogendysplasie. Die untersuchten Krebsarten waren Lymphosarkom, Hämangiosarkom, Mastzelltumor und Brustkrebs. 5% der Hunde einer Rasse der intakten Rüden und Weibchen hatten eine oder mehrere Gelenkerkrankungen. Dieser Wert verdoppelte sich für frühkastrierte (6 Monate) in Bezug auf die Inzidenz einer oder mehrerer Gelenkerkrankungen bei beiden Geschlechtern. Bei männlichen und weiblichen Golden Retrievern, deren Rate  an Gelenerkrankungen mit 5% bei intakten Hunden gleich war, erhöhte sich die Rate nach der Kastration mit 6 Monaten auf das 4- bis 5-fache von intakten Hunden! Die Inzidenz für eine oder mehrere Krebsarten bei kastrierten, weiblichen Labrador-Retrievern stieg leicht über das Niveau von 3 Prozent im Vergleich zu intakten Weibchen. Aber im Gegensatz erhöhte die Kastration in allen Perioden bis zum Alter von 8 Jahren die Rate von mindestens einer der Krebsarten um das 3-4-fache. Bei männlichen Golden und Labrador-Retrievern hatte die Kastration relativ geringe Auswirkungen auf das Auftreten von Krebserkrankungen. Vergleiche von Krebserkrankungen in den beiden Rassen deuten darauf hin, dass das Auftreten von Krebserkrankungen bei weiblichen Golden Retrievern ein Spiegelbild der besonderen Anfälligkeit für die Entfernung von Gonadenhormonen ist. Neben der Vermeidung erhöhter Risiken für Gelenkerkrankungen und Krebserkrankungen gibt es Hinweise darauf, dass der altersbedingte kognitive Rückgang durch die Kastration beschleunigt werden könnte.
Diese Fakten sprechen für sich und sie bedeuten, das der Wunsch von Haltern nach "Verhütung" bestimmter Krankheiten Risiken produziert, die um ein Vielfaches höher sind. "Verhütung" bedeutet ja, das einem möglichen Fall vorgebeugt werden soll, der noch gar nicht eingetreten ist und möglicherweise nie eintreten wird. Die Verhütungsmaßnahme in Form einer Amputation (Kastration) dagegen kann aber zu anderen Krankheiten wie z. B. Krebs führen, auf den in dieser Retrospektive besonderer Wert gelegt wurde. 

zu 3. "für die vorgesehene Nutzung zu dessen Schutz oder zum Schutz anderer Tiere unerlässlich"
Aus dem folgenden Zitat aus Hirt et al., 2007 wird deutlich, dass diese Ausnahme wohl für die gewerbliche "Nutzung" von Tieren gedacht ist:

"Unerlässlich" bedeutet "unbedingt notwendig". Mit der Einfügung dieses Begriffes durch das ÄndG 1986 wollte der Gesetzgeber klarstellen, "dass Tiere nicht durch Vornahme einer Amputation einem vielleicht aus betriebswirtschaftliehen Gründen zweckmäßigen Haltungssystem angepasst werden dürfen, sondern dass mit Vorrang die Haltungsbedingungen verbessert werden müssen. [...] Entsprechend dazu ist in den neueren Empfehlungen des St. Ausschusses zum ETÜ stets die Rede von dem nötigen "Bewusstsein, dass Umgebung und Betreuung den biologischen Erfordernissen der Tiere entsprechen müssen, anstatt zu versuchen, die Tiere der Umgebung zB durch Eingriffe ,anzupassen'" (so u.a. die Präambel der Empfehlungen für Haushühner, Pekingenten, Moschusenten, Hausgänse, Straußenvögel, Pelztiere). Es bedarf deshalb einer Einzelfallprüfung durch die nach § 15 zuständige Behörde, ob die beabsichtigte Teilamputation unbedingt notwendig ist, um im Rahmen der vorgesehenen Nutzung das Tier selbst oder andere Tiere vor Krankheiten oder Verletzungen zu schützen. Die Behörde sollte sich dabei folgende Fragen stellen:
1. Welche Verletzungen oder Krankheiten drohen, wenn auf den Eingriff verzichtet wird?
2. Welches sind die für diese Gefahr ursächlichen Faktoren, insbesondere in den Bereichen ,Ernährung', ,Pflege' und ,Unterbringung'?
3. Hat der Halter glaubhaft gemacht, diese Faktoren so weit wie möglich (und nicht nur so weit wie betriebswirtschaftlich zweckmäßig) verbessert zu haben? (vgl. auch Abs. 5: Die Behörde kann die Vorlage von Augenscheinsobjekten wie Fotos und Filmen, von Urkunden, von eidesstattlichen Versicherungen und von Sachverständigengutachten verlangen; die Auskünfte und Belege kann sie sowohl formlos als auch mittels förmlichen Verwaltungsakts einfordern; vgl. Kluge/Hartung § 6 Rn. 11)
4. Hat der Halter darüber hinaus glaubhaft gemacht, dass die Gefahr dennoch fortbesteht sowie dass
5. die drohenden Krankheiten oder Verletzungen schwerer wiegen als die beabsichtigte Teilamputation?
" (Hirt et al., 2007; Rn 9; Hervorhebungen A. R.)

Wie auch immer: aus meiner Sicht ist eine Kastration mittels tierärztlicher Indikation auch bei Heimtieren möglich, wenn sie zum Schutz des Tieres durchgeführt wird. Das heißt z. B., dass bei weiblichen Tieren, die aus hormonellen Gründen zu einem ständigen und wiederholten Nestbau oder zu einer ständig geschwollenen Milchleiste neigen, die ihre eigene Gesundheit gefährdet, eine Kastration durchaus in Erwägung gezogen werden kann. Vom Tierarzt, und von niemand anderem. Bei einem eventuellem Rechtsstreit müsste dieser aber eben durch entsprechende Nachweise (Punkt 3) seinen Eingriff rechtfertigen können.

Aber: wenn von Haltungsbedingungen die Rede ist, muss man im Ernstfall glaubhaft belegen können, dass man alles mögliche getan hat, diese den Bedürfnissen der Tiere entsprechen. Wenn das der Fall wäre, kann es zu vielen Problemen bis hin zu Gebärmuttererkrankunegen der weiblichen Tiere in der Heintierhaltung, vergleichbar mit denen in der Natur aber nicht oder nur sehr selten kommen. Und wissen Sie was, liebe Leser? Auch das fordert der Gesetzgeber. Unglaublich, aber wahr. Er hat nämlich bestimmt, dass ein Tierhalter "über die für eine angemessene Ernährung, Pflege und verhaltensgerechte Unterbringung des Tieres erforderlichen Kenntnisse und Fähigkeiten verfügen" muss. (TierschG, 2017, §2). Der Halter muss sich also informierten und dann auch noch handeln.

zu 5. "unkontrollierte Fortpflanzung"
Eine unkontrollierte Fortpflanzung wäre nur dann möglich, wenn ein zeugungsfähiger Rammler mit einem zeugungsfähigen Weibchen gehalten werden würde. Rammler werden heute pauschal kastriert, weil sie sich im geschlechtsfähigen Alter mitunter blutige Rangordnungskämpfe liefern, die ein hohes Beschädigungspotential aufweisen oder eben um eine unkontrollierte Fortpflanzung zu verhindern. Damit würde dieses Argument für eine Kastration von Weibchen entfallen, weil ja der zeugungsfähige Partner fehlt.

Die Formulierung "...zur weiteren Nutzung oder Haltung des Tieres eine Unfruchtbarmachung vorgenommen wird" resultiert aus der Begründung für die Änderung des TierschG, die in der Bundestagsdrucksache BT Drs 13/7015, 1997 veröffentlicht wurde:

"Die bisherige Fassung des § 6 läßt die hier gebotenen Maßnahmen nicht in rechtlich einwandfreier Weise zu. Die vorgesehene Formulierung erlaubt auch die Kastration, um u. a. für die Zucht nicht mehr verwendbare Tiere weiterhin halten zu können."

Das klingt ganz danach, als wären Lobbyisten der Zucht- und Mastindustrie für diese Änderung am Werk gewesen. Lorz & Metzger, 2008 sehen in der "weiteren ... Haltung des Tieres" auch den Punkt einer "Verträglichkeit mit anderen Tieren". Dieser Passus wäre aber eigentlich auch schon durch den Satz 3 zulässig, in dem festgehalten wurde, dass die Kastration zulässig ist, wenn sie "zum Schutz anderer Tiere unerlässlich ist".

Inwieweit das für die Heimtierhaltung ohne ökonomische Zwänge als zulässig erachtet wird, ist fraglich, weil ungeklärt. Theoretisch wäre für die Heimtierhaltung nämlich die Änderung von Haltungsbedingungen möglich, was immer einem möglichen, abzuwendenden Schaden für das Tier durch eine Kastration vorzuziehen wäre.

Grundsätzliches zu Tierarztmeinungen

Tierärzte, die sich für die pauschale (Früh-)Kastration von Tieren aussprechen, führen als Argument in der Regel ihren Klinikalltag und die dort vorstelligen Halter mit ihren Tieren an. Daraus schließen sie z. B., dass der Anteil an Kaninchen mit Gebärmuttererkrankungen sehr hoch sei. Das kann durchaus sein, ist aber ein rein subjektives Argument. Dieses wird häufig durch Beschreibungen und Bilder von dramatischen Gebärmutterveränderungen gestützt, bei denen man sich immer wieder fragt, wie es eigentlich überhaupt so weit kommen konnte. Im Prinzip kann das nur bedeuten, das die Halter ihre Orchideen im Wohnzimmer intensiver begutachten als die Tiere, die zu ihren Füßen herumlaufen. Mit seiner Forderung nach amerikanischen Verhältnissen unterstützt Dr. Lazarz meiner Meinung nach im Prinzip Halter, die sich Tiere anschaffen und diese dann zurechtoperieren lassen wollen, damit sie keinen Dreck machen und nicht krank werden. Bis zu weiteren, amerikanischen Auswüchsen wie Krallen ziehen bei Katzen oder Durchtrennen der Stimmbänder bei Hunden sollte es in Deutschland auf keinen Fall kommen. Im Gegenteil: die Tierhaltung sollte so streng reglementiert werden, dass nicht "Hinz und Kunz" sich ein Tier anschaffen, dieses für eine leichtere Haltung operativ modellieren lassen und bei endültigem Nichtgefallen im Tierheim abladen.

Tierärzte geben häufig eine Entscheidungshilfe insofern, dass Risiken einer Kastration allein auf die Operation beschränkt werden - und selbst diese werden noch nach dem Motto "nicht so schlimm" bagatellisiert. In den seltensten Fällen sehen Tierärzte ihre Patienten nicht wieder. Sie wissen also oft gar nicht, was denn ihr Eingriff nun für das Tier bewirkt hat. Die Tierhalter wiederum erkennen im seltensten Fall und das nur nach Aufklärung, dass ein späteres Problem bei ihrem Tier letztlich auch auf die Kastration zurückgeführt werden kann. Harnsteine, Gebissanomalien, verschiedene Krebsarten, vermehrter Parasitenbefall wegen eines gestörten Immunsystems und abnormaler Gewichtszunahmen, weitere oder gar gesteigerte Aggressivität usw. sind ganz "normale", mögliche Nachwirkungen einer Kastration. Ganz zu schweigen von kognitiven Einbußen, die bei Kaninchen so gut wie gar nicht zur Sprache kommen. So was hört  oder liest man nur selten, denn wer gibt schon gern zu, dass er eine falsche Entscheidung getroffen hat? Ich höre sie nicht selten am Telefon, wenn sich Halter am Telefon melden und die Ursachenanalyse ergibt, dass wohl die Kastration der Auslöser für diverse Krankheiten gewesen sein muss, für die sich dann der Tierarzt nicht mehr zuständig sieht. Kennen Sie den Begriff "austherapiert", liebe Leser?

Viele Tierärzte berichten mittlerweile von einer dramatischen Zunahme von weiblichen Kaninchen in ihrer Praxis, die eine Umfangsvermehrung oder eine tumoröse Erkrankung der Geschlechtsorgane aufweisen würden. Deshalb wäre aus ihrer Sicht die pauschale Kastration, möglicherweise sogar eine  Frühkastrationen von Häsinnen zu befürworten. Ich weiß nicht, in welchem Maß heute im Medizinstudium noch "Statistik" gelehrt wird. Normalerweise müssten Tierärzten Begriffe wie "Grundgesamtheit" bzw. "Population", "Stichprobe", "Variable", "Signifikanz" usw. bekannt sein. Aus diesem Grund müssten sie dann eigentlich auch wissen, was ihre Aussagen wert sind - nämlich nichts. Sie taugen allenfalls im Sinn des "Monitoring" der Erfassung eines Sachverhaltes, der sich allerdings nur auf ihre Praxis beschränkt und sämtliche, mögliche Einflussgrößen völlig außer Acht lässt. Daraus lässt sich auch die simple Weisheit im wissenschaftlichen Denken ableiten, dass eine Korrelation keine Kausalität darstellt. Mit anderen Worten: eine hohe Korrelation bzw. ein offensichtlicher Zusammenhang zwischen zwei Variablen bedeutet nicht zwangsläufig, dass die zwei Variablen auch kausal (ursächlich) miteinander zusammenhängen. Der scheinbare Zusammenhang könnte auch durch eine weitere Variable verursacht werden, die unberücksichtigt blieb.

Ich möchte an verschiedenen Beispielen darstellen, warum es vielleicht für den Tierarzt zwar interessant sein könnte zu wissen, warum er so viele weibliche Patienten bekommt, dass das aber für eine Pauschalisierung oder sogar Empfehlung nicht taugt.
  • Es gibt nur wenige Tierärzte, die publizieren. Es ist nicht bekannt, ob es genauso viele Tierärzte geben könnte, die eine gegenteilige Beobachtung (viele weibliche Kaninchen mit nur wenig Erkrankungen) in ihrer Praxis machen. Gesunde Tiere sind für Tierärzte uninteressant.
  • Niemand kennt die genaue Gesamtpopulation an weiblichen Hauskaninchen in Deutschland. Es ist einem Tierarzt also nicht bekannt, wie hoch, prozentual gesehen, der Anteil an erkrankten Tieren ist. Er kann somit keine Aussage darüber treffen, ob der Anteil kranker Tiere, gemessen an der Grundgesamtheit, hoch oder gering ist. Gesunde Tiere sind für Tierärzte uninteressant.
  • Ein Tierarzt weiß nicht, wie viele Kaninchenhalter mit wie vielen Tieren in seinem Einzugsbereich leben. Er weiß auch nicht, wie viele dieser Tiere gesund und wie viele krank sind (Grundgesamtheit bzw. Population). Gesunde Tiere sind für Tierärzte uninteressant.
  • Gibt es in seinem Einzugsbereich viele Tierschutzorganisationen, die sich um Kaninchen kümmern oder werden neu gegründet, hat das Einfluss auf seine Patientenzahl, denn die kümmern sich vornehmlich um kranke Tiere.
  • So genannte "Pflegestellen" bedeuten suboptimale Haltungsbedingungen (schon wegen dem ständigen Wechsel der Tiere) und somit eine erhöhte Patientenzahl - ist die Anzahl der Pflegestellen in seinem Einzugsbereich hoch oder niedrig?
  • Wie viele, andere Tierärzte gibt es in seinem Einzugsbereich?
  • Gehört die Praxis zu denen, die nach Terminvereinbarung ohne Fragen kastrieren? (viele Tierschützer meiden Tierärzte mit einem Verantwortungsgefühl gegenüber dem Tier - siehe Grundsatz "Unversertheit")
  • Ist die Praxis teurer oder preiswerter als andere?
  • Wird der Tierarzt empfohlen ...?

... und so weiter und so fort ...

Nach der Veröffentlichung von Dr. Lazarz und seinen Darstellungen auf der Webseite ist es z. B. durchaus vorstellbar, dass jeder, der ähnlich denkt wie er und in seinem Einzugsbereich lebt, zu ihm in die Praxis kommt. Das bei einer OP dann festgestellt wird, dass die Gebärmutter verändert ist, wäre gar nicht überraschend. Vor allem bei älteren Tieren. Das trifft genauso für den Menschen zu. Organe verändern sich nun mal mit dem Alter. Ob das allerdings immer gleich in einer Amputation gipfeln muss, ist fraglich. Selbst in den Arbeiten von Greene, auf die ich später noch eingehe wurde festgestellt, dass post mortem zwar Gebärmutterveränderungen festgestellt wurden, diese aber nicht für den Tod ursächlich waren.

Tja, liebe Leser - Sie vermissen jetzt bestimmt Aussagen zur "Frühkastration" von Kaninchen. Sie haben aber sicher in der Herleitung der verschiedenen Grunde für eine Kastration schon selbst darauf geschlossen, dass das Tierschutzgesetz diese nicht erlaubt (weil es keinen Patienten gibt). Wir erinnern uns: "Erlaubnisvorbehalt". Alle Eingriffe an Tieren sind verboten, es sei denn, die Voraussetzungen für bestimmte Ausnahmen werden erfüllt. Die Frühkastration wird aber durch keine einzige Ausnahme gerechtfertigt. Ergo ist sie unzulässig. Eigentlich.

"X% aller weiblichen Kaninchen bekommen Gebärmutterkrebs, das habe ich auf einer amerikanischen Webseite gelesen"

Darauf und auf die so genannte "Kastrationfrist" gehe ich im nächsten Beitrag ein, also bleiben sie schön neugierig und interessiert!

Quellen:
  • Amtsgericht Alzey, Aktenzeichen 22 C 903/95; 14.06.1996
  • Gabriel, S. (2017): Die Kastration männlicher Heimtiere – lieber offen oder bedeckt? 20(S 01): 7-12.https://www.thieme-connect.com/products/ejournals/html/10.1055/s-0043-101331#N65732. DOI:10.1055/s-0043-101331. Abruf am 24.1.2018
  • Hart, B. L.; Hart, L. A.; Thigpen, A. P.; Willits, N. H. (2014): Long-Term Health Effects of Neutering Dogs: Comparison of Labrador Retrievers with Golden Retrievers. PLoS ONE 9(7): e102241. doi:10.1371/journal.pone.0102241
  • Hirt, A.; Maisack, C.; Moritz, J. (2007): Tierschutzgesetz. Kommentar. 2. Aufl. München: Vahlen (Vahlens Kommentare). ISBN 9783800632305
  • Lazarz, B. (2006): Scheinträchtigkeit und andere hormonbedingte Erkrankungen beim Kaninchen. Rodentia Nr. 29, Jahrgang 6(1). 58-59
  • Lorz, A.; Metzger, E. (2008): Tierschutzgesetz mit Allgemeiner Verwaltungsvorschrift, Rechtsverordnungen und Europäischen Übereinkommen sowie Erläuterungen des Art. 20 a GG. Kommentar. begründet von Lorz, A.; bearbeitet von Metzger, E. 6., neubearbeitete Aufl. München: C. H. Beck. ISBN 978340655436
  • Niepel, G. (2007): Kastration beim Hund. Chancen und Risiken - eine Entscheidungshilfe. Franckh Kosmos Verlag. ISBN-13: 978-3440101216
  • Pschyrembel, W. (2002): Klinisches Wörterbuch. 259. Aufl., Berlin: de Gruyter;. CD-ROM. ISBN 3-11-016523-6
  • Wiesner, E.; Ribeck, R. (2000): Lexikon der Veterinärmedizin. Enke: Stuttgart. ISBN 3-7773-1459-5

Sonntag, 7. Januar 2018

Die Verdauung beim Kaninchen. Teil 2: Darmaufbau

Obwohl der Darm des Kaninchens sehr lang und die Nahrung sehr wasserhaltig ist, schafft es das Kaninchen, in der kurzen Zeit des Durchgangs des Nahrungsbreis durch den Darm alle benötigten Nährstoffe daraus zu absorbieren. Verantwortlich dafür ist der innere Struktur des Darms und eine gewissse Flexibilität des Kaninchens bzw. des Darms, auf die Zusammensetzung der Nahrung zu reagieren.

Der Darm, speziell der Dünndarm, ist nicht einfach eine glatte Röhre, durch die die Nahrung wandert, sondern verfügt über eine komplizierte, innere Struktur.

Bild 1: Aufbau des Dünndarms


In Bild 1 bedeuten die einzelnen Bezeichnung folgendes:
  • Submukosa - Bindegewebsschicht unterhalb der eigentlichen Schleimhaut (Mukosa). Sie besteht in der Regel aus lockerem Bindegewebe und enthält Blut- und Lymphgefäße sowie kleineren Drüsen und Nervenzellen.
  • Mukosa - Gleitfilm mit Barrierefunktion, dient der mikrobiellen Abwehr durch Sekretion antibakterieller Substanzen, Ermöglichung der Resorption von Substanzen aus dem Darmlumen (Darminneren). Die Oberfläche der Mukosa wird von einer Schleimschicht aus Muzinen bedeckt. Die Darmschleimhaut produziert u. a. auch Disaccharidasen (zuckerspaltende Enzyme).
  • Lymphknoten - schließen den Darm an das Lymphsystem des Körpers an, das ein Teil des Abwehrsystems (Immunsystems) gegen Krankheitserreger, Fremdstoffe und veränderte Körperbestandteile wie z. B. Tumorzellen ist. Außerdem ist das Lymphsystem ein wichtiger Bestandteil des Flüssigkeitstransports im Körper und steht in enger Beziehung zum Blutkreislauf.
  • Epithel - Deck- und Drüsengewebe, das Stoffe durch Resorption aufnehmen kann und eine Barriere bildet. Es enthält selbst keine Blutgefäße und ist sehr dünn.
  • Kerckring-Falten - dienen der Oberflächenvergrößerung der Darmschleimhaut und unterstützen die Peristatik (Kontraktion- und Entspannung von Hohlorganen wie dem Darm, welche durch glatte Muskelzellen hervorgerufen werden). In der neueren Literatur wird immer davon ausgegangen, dass die Innenwand des Dünndarms des Kaninchens glatt wäre. Dem stehen ältere Beschreibungen gegenüber, die solche Falten beschreiben, so z. B. von Jaffé (1931) und Cohrs, et al. (1958) - aus letzterer sei folgendes zitiert: "Die Schleimhaut des 2-3 m langen Dünndarmes ist blaßrötlich, sie bildet niedrige Längsfalten und unregelmäßige Querfalten" (S. 106, Hervorhebung A. R.). Der Widerspruch dürfte darin liegen, dass für frühere Untersuchungen auch Wildkaninchen mit betrachtet wurden oder Hauskaninchen, die noch weitgehend natürlich ernährt wurden.
Bild 2: Ausschnitt aus der Darmwand (siehe Lupe in Bild 1)

Das Bid 2 zeigt einen vergrößerten Ausschnitt aus der Darmwand. Die Bezeichnungen bedeuten folgendes:
  • Zotten - (Darmzotten) fingerförmige Ausstülpungen der Darmschleimhaut, die der Oberflächenvergrößerungen der Darmschleimhaut dienen
  • Mikrovilli - kleine, fadenförmige Ausstülpungen auf dem Epithel. Die Gesamtheit dicht stehender Mikrovilli wird als Bürstensaum bezeichnet. Sie vergrößern die innere Oberfläche, saugen Nährstoffe auf und befördern sie in die Blutbahn.
  • Epithel mit Becherzellen - Becherzellen sind Drüsen, die Muzine (Schleimstoffe) produzieren. Diese bilden eine Schleimschicht zum Schutz der Epithelzellen
  • Krypte - Einbuchtungen zwischen den Darmzotten, die als Lieberkühn-Krypten bezeichnet werden und der Oberflächenvergrößerung der Darmschleimhaut dienen. Die Krypten sezernieren zahlreiche Enzyme wie z. B. Peptidasen (Trypsin), Invertase (spaltet Saccharose in Glukose und Fruktose) sowie  Maltase (für die Spaltung von Kohlenhydraten)
  • M-Zelle - modifizierte Epithelzelle, die eine wichtige Rolle in der Entwicklung und Funktionalität des Immunsystems spielt und dem lymphatischen System zugerechnet wird. M-Zellen nehmen Antigene (z. B. Bakterien, Viren, Pilze, kleine Parasiten) auf und geben sie an Zellen des adaptiven (erworbenen) Immunsystems weiter. Spätere Entwicklungsstadien von Eimeria coecicola sind z. B. in M-Zellen zu finden.
  • Makrophagen - Teil des zellulären Immunsystems, die auch als „Fresszellen“ bezeichnet werden. Ihre Aufgaben sind u. a. die Initiation und Regulation von Abwehrreaktionen wie Entzündungen, die Eliminierung von Bakterien und abgestorbenen Körperzellen, die Zerstörung von Tumorzellen, das Entfernen von Zerfallsprodukten von Abszessen oder Pseudozysten, die aus degenerativen und entzündlichen Prozessen entstehen sowie die Wundheilung
Die Beschreibungen lassen erahnen, dass der Darm (und seine Schleimhaut) wohl sehr wichtige Funktionen zu erfüllen hat und nicht nur allein dem Transport der Nahrung dient. Auf diese Funktion möchte ich mich aber an dieser Stelle erst einmal beschränken.

An vier Stellen der Beschreibungen findet sich der Terminus "Oberflächenvergrößerung", nämlich bei den Kerckring-Falten, den Zotten, den Mikrovilli und den Krypten. Wenn der Darm bzw. die innere Darmwand eine glatte Röhre wäre, hätte sie eine bestimmte Fläche. Jede Einbuchtung und Erhebung vergrößert diese Fläche und damit die Möglichkeit, Nährstoffe aufzunehmen, durch die Darmwand und über das Blut zu den Zielorten zu leiten.

Bild 3: Skizze zum Prinzip der Flächen-
vergrößerung

Die Skizze (Bild 3) soll das Prinzip noch einmal stark vereinfacht verdeutlichen: Obwohl die Grundlinien gleich lang sind, ist die Strecke durch "Falten" in b) um ein Vielfaches länger als in a).

Kerckring-Falten in der Darmwand vergrößern die Oberfläche für die Absorption im Dünndarm um das 1,6fache und Zotten sowie Mikrovilli um das 60-120fache. Im Dickdarm vergrößern Mikrovilli die Oberfläche um das 6,5fache. Für den Menschen wurden frühere Angaben zur inneren Darmoberfläche inzwischen deutlich nach unten korrigiert, nämlich von rund 200 m² auf ca. 32 m² (Helander & Fändricks, 2014). In ihrer Arbeit zitiert A. Langenbeck (1996) verschiedene Autoren mit Angaben der Faktoren der Oberflächenbergrößerung des Darms in verschiedenen Darmabschnitten (Musosafläche pro Serosaflächeneinheit). Für den Mensch beträgt dieser Faktor demnach 5-6,2 und für das Kaninchen 17,6. Ermittelt wurde der Wert für das Kaninchen von Krogh (1924) für das Duodenum, einem Abschnitt des Dünndarms, der auch "Zwölffingerdarm" genannt wird. Dem Autor zufolge  wäre der Faktor doppelt so hoch wie beim Hund.

Unabhängig von Zahlen lässt sich feststellen, dass die innere Oberfläche des sehr langen Darms durch verschiedene anatomische Besonderheiten zusätzlich vergrößert wird. Auf diese Weise ist es möglich, dass der Organismus in der kurzen Zeit aus einer ballaststoffreichen Nahrung alle Nährstoffe absorbieren kann, die er benötigt.

Je größer die Verdaulichkeit einer Nahrung, umso geringer ist die innere Fläche des Darms. Erhöht sich der Gehalt an unverdaulichen Stoffen oder Wasser, ist auch die Fläche der inneren Darmwand größer (vor allem durch Ausbildung von Zotten und Mikrovilli), weil der Organismus in einer bestimmten Zeit, die ihm zur Verfügung steht, die benötigten Nährstoffe aus dem Nahrungsbrei absorbieren (aufnehmen) muss.

Aus den Erklärungen wird deutlich, dass Veränderungen in der Fütterung einen Einfluss auf die Aufnahmefähigkeit von Nährstoffen hat. Der Darm braucht Zeit, um seine Oberfläche an die neue Nahrung anzupassen. Die Länge des Darms bleibt davon aber weitgehend unbeeinflusst. Ausführlich habe ich das in einem Artikel für die "Kaninchenzeitung" beschrieben (Rühle, 2015a; Rühle, 2015b).

Weil ich einigen Artikeln bereits über das Thema "Rohfaser" schrieb, möchte ich im Zusammenhang mit dem inneren Darmaufbau hier kurz noch etwas anfügen, was eigentlich ein eigenes Thema wert wäre. Ich stellte ja u. a. fest, dass die Angabe des Wertes einer "Rohfaser" weitgehend sinnfrei ist, weil man nicht weiß, wie sich diese zusammensetzt. In einer Arbeit von Chiou et al., 1994 wurde zum Beispiel festgestellt, dass Pectin im Futter die Dicke der Muskelschicht im Dünndarm insofern beeinflusst, dass sie durch einen höheren Gehalt im Futter stärker wird. Zurückführen lässt sich das auf die Eigenschaft von Pectin, in hohem Maße Wasser zu binden und zu quellen. Das wiederum übt einen Druck auf die Darmwand aus, was die Peristaltik, also Muskelbewegungen für den Transport der Nahrung im Darm anregt. Je stärker die Muskeln, umso besser der Vorwärtstransport des Nahrungsbreis im Darm.

Bi et al. veröffentlichten 1996 einen Artikel, der sich nur mit dem Rohfasergehalt in Trockenfuttern beschäftigte. Dieser betrug 5,5; 8,5; 11,5 und 14,5%. Mit Hilfe eines Rasterelektronenmikroskopes (REM) wurden verschiedene Darmabschnitte untersucht und festgestellt, dass ein Rohfasergehalt von 14,5% zu signifikanten Schädigungen der Schleimhaut sowohl im Dünn- wie auch im Dickdarm (Blinddarm) führten. Die folgenden Bilder sind Folien aus einem Vortrag von mir, die ich an dieser Stelle der Faulheit halber benutze, um das Ausmaß der Schädigungen zu zeigen.

Bild 4: Rohfasereinfluss auf die Dünndarmschleimhaut


Bild 5: Rohfasereinfluss auf die Blinddarmschleimhaut


Tja, liebe Leser - und was kann aus einer "kaputten" Darmschleimhaut resultieren? Das ganze System des Schutzes der Darmschleimhaut gerät aus den Fugen ...

Bild 6: Mögliche Auswirkungen



Hier sei noch einmal angemerkt, dass die Empfehlung für den Rohfasergehalt in Trockenfuttern eigentlich bei 14-16% liegt, also auch für einen Gehalt, der in der Arbeit untersucht wurde. Das Problem ist, dass derjenige, der Trockenfutter als Hauptnahrung für seine Kaninchen nutzt, über die Zusammensetzung der Rohfaser nichts weiß, während der "Laie", dem Werte für die Zusammensetzung der Gerüstsubstanzen zur Verfügung stehen, diese auch beurteilen kann. Und es sei ausdrücklich noch einmal darauf verweisen, das Schwankungen in den Gehalten solcher (Literatur-)Werte oft geringer sind als die zulässigen Toleranzen für "Rohfaser" in der Herstellung von industriellen Futtermitteln! Was in diesem Zusammenhang für Trockenfutter festgestellt wurde, gilt natürlich im gleichen Maß für Heu.

Der Darm und seine Gesundheit spielen eine wichtige Rolle für das Immunsystem, worauf in noch eingegangen werden soll.

Quellen:
  • Bi, Yu; Chiou, P. W. S. (1996): Effects of crude fibre level in the diet on the intestinal morphology of growing rabbits. Laboratory animals 30.2: 143-148 
  • Chiou, P. W. S.; Bi, Yu; Lin Chang (1994): Effect of different components of dietary fiber on the intestinal morphology of domestic rabbits. Comparative Biochemistry and Physiology Part A: Physiology 108.4: 629-638.
  • Chivers, D. J.; Hladik., C. M. (1980): Morphology of the gastrointestinal tract in primates: Comparisons with other mammals in relation to diet. Journal of Morphology 166. pp. 337-386.
  • Cohrs, P.; Jaffé, R.; Meesen, H. (1958): Pathologie der Laboratoriumstiere. Berlin, Göttingen, Heidelberg : Springer
  • DeSesso, J. M.; Williams, A. L. (2008): Contrasting the Gastrointestinal Tracts of Mammals: Factors that Influence Absorption. In: John E. Macor, editor: Annual Reports in Medicinal Chemistry, Vol 43, Annual Reports in Medicinal Chemistry, John E. Macor. The Netherlands: Academic Press, pp. 353–371. ISBN: 978-0-12-374344-2
  • Helander, H. F., & Fändriks, L. (2014). Surface area of the digestive tract – revisited. Scandinavian journal of gastroenterology, 49(6), 681-689.
  • Jaffé, R. (1931): Anatomie und Pathologie der Spontanerkrankungen der kleinen Laboratoriumstiere. Berlin : Springer
  • Krogh, A. (1924): Anatomie und Physiologie der Capillaren. Berlin, Heidelberg: Springer
  • Langenbeck, A. (1996). Fassungsvermögen und innere Oberfläche des Darms von Weißzahnspitzmäusen (Mammalia: Crocidurinae) unterschiedlicher Körpergröße. Zool. Beitr, 46, 287-305.
  • Rühle, A. (2015a): Mehr Kapazität als gedacht. Teil 1. Das Fassungsvermögen der Verdauungsorgane von Haus- und Wildkaninchen. Kaninchenzeitung 3/4, S. 16-20
  • Rühle, A. (2015b): Mehr Kapazität als gedacht. Teil 2. Ernährung von Kaninchen: Natürliche Varianz statt monotoner Pellets. Kaninchenzeitung 5/6, S. 48-51
  • Thomson, A. B. R. (1986): Resection of rabbit ileum: Effect on jejunal structure and carrier-mediated and passive uptake. Experimental Physiology Vol. 71. Issue 1. 29-46

Montag, 1. Januar 2018

Die Verdauung beim Kaninchen. Teil 1: Anatomie

Aus Zuschriften wird für mich deutlich, dass manches zum Thema "Verdauung" beim Kaninchen, über das ich locker und flockig hinweggehe, nicht wirklich von jedem verstanden wird. Meistens mündet das letztlich in die Frage: "Was bedeutet dann das jetzt für meine Fütterung?" Entweder ist die Fütterung von Kaninchen unheimlich kompliziert oder ich habe sie auf eine Weise erklärt, die für manche nicht nachvollziehbar ist. Deshalb habe ich mich entschlossen, in einer Serie das Thema von vorn nach hinten aufzudröseln und alles sehr vereinfacht darzustellen. Auf umfangreiche Quellenangaben zu bestimmten Werten und Formeln zur Berechnung werde ich hier verzichten, Interessierte können diese in meinem Buch "Das Kaninchen - Nahrung und Gesundheit" nachlesen. Wer die Artikel verfolgt, sollte am Ende besser verstehen, wie die Verdauung des Kaninchens "funktioniert", welche Futtermengen sie brauchen und fressen, wie diese ihnen schaden oder nutzen können und warum ich bestimmte Dinge ablehne oder empfehle. Wie immer gilt: Religionen und Ideologien interessieren mich an der Stelle nicht, es geht nur um das Tier, also das Kaninchen.

Für das Verständnis verschiedener Darmerkrankungen beim Kaninchen kommt man um eine Betrachtung der Besonderheiten das Verdauungssystems des Kaninchens nicht herum. Darmerkrankungen gehören mit zu den häufigsten Erkrankungen bei Hauskaninchen. Darmlänge und -aufbau sowie die Nahrung des Kaninchens bilden eine Einheit, deren Störung zwangsläufig zu Erkrankungen des Verdauungssystems führen kann, die dann ihrerseits wieder der Auslöser für weitere Erkrankungen des Organismus sein können. Wenn man weiß, wie das empfindliche System der Verdauung funktioniert, weiß man auch, wie sich bestimmte Alternativen in der Ernährung von Hauskaninchen auswirken können.

Anatomie des Darms 

In den folgenden Betrachtungen beziehe ich mich auf Wildkaninchen, die in Mitteleuropa leben, genauer auf Wildkaninchen in Deutschland. Die physiologischen Daten für das Kaninchen sind dem Werk von Kaetzke, et al. (2003) entnommen, die für den Menschen stellen Durchschnittswerte aus verschiedenen Literaturquellen dar.

Bild 1: Körperlänge von Wildkaninchen in Deutschland, in mm
















Bild 2: Körpergewicht von Wildkaninchen in Deutschland, in g
















Die beiden vorstehenden Diagramme sind sogenannte "Boxplots" oder "Whisker-Diagramme" (in Excel "Kastengrafik" genannt). Die Boxen verkörpern 50% aller Werte, die "Antennen" (Whisker") die oben und unten an die Boxen anschließen, jeweils 25%. Der waagerechte Strich in der Box ist der "Median", das Kreuz in diesen Fällen der arithmetische Mittelwert. Bei dem Punkt in Bild 2 links für die männlichen Tiere, der unterhalb des unteren Whisker liegt, handelt es sich um einen "Ausreißer", also einen Wert, der nicht in die Statistik "passt". Solche Werte können eine Verschiebung des Mittelwertes bewirken, weil sie in die Berechnung eingehen. Der Median bleibt davon unbeeinflusst, weil er der mittlere aller Werte ist und somit den Ausreißer nicht mit erfasst.

Die Digarmme zeigen, dass weibliche Wildkaninchen etwas schwerer und größer (länger) als männliche sind.

Bei Literaturangaben über die Körpergröße bzw. -länge muss man aufpassen, weil manche nur die Kopfrumpflänge angeben. In meinem Beispiel wurde die Länge der Hinterläufe zur Kopfrumpflänge addiert, weil ich beim Menschen ja auch die Beine in der Körperlänge berücksichtige.

Der Darm des Menschen ist bei einer durchschnittlichen Körperlänge von 1,70 m rund 7 m lang. Das heißt, im Verhältnis zur Körperlänge ist der Darm ungefähr viermal länger. Der Darm des Kaninchens ist ca. 4,5 m lang – bei einer Körperlänge von nur 0,50 m (Kopf bis einschließlich der Hinterfüße). Das bedeutet, dass der Darm des Kaninchens 9 Mal länger als sein Körper ist. Betrachtet man den Menschen und das Kaninchen im Vergleich, verfügt das Kaninchen also im Vergleich zur Körpergröße über einen Darm, der doppelt so lang wie der des Menschen ist. 

Bild 1: Körpergröße und Darmlängen von Mensch 
und Kaninchen im Vergleich
Zurückführen lässt sich dieser Unterschied auf die unterschiedliche Nahrung, denn während der Mensch ein „Allesfresser“ (Omnivore) ist, ernährt sich das Kaninchen ausschließlich von pflanzlicher Nahrung - es ist also ein "Pflanzenfresser" (Herbivore). Diese Nahrung verfügt über einen hohen Wassergehalt und über einen gewissen Anteil an unverdaulichen Stoffen.

Die Verdaulichkeit der Nahrung beeinflusst die Darmlänge: Fleischfresser haben den kürzesten Darm, weil sie leicht verdaulich ist; Allesfresser haben einen längeren Darm, weil der Anteil an unverdaulichen Bestandteilen höher ist und über den längsten Darm verfügen Pflanzenfresser, weil in ihrer Nahrung der Anteil an unverdaulichen Stoffen am höchsten ist. Manche Pflanzenfresser verfügen aus diesem Grund über mehrere Mägen. Das Kaninchen hat nur einen Magen, dafür aber einen vergleichsweise großen Blinddarm. Dort leben Bakterien, die einen Teil der Pflanzenfasern abbauen können.

Die Durchgangszeiten der Nahrung durch den Verdauungstrakt werden ganz unterschiedlich angegeben, weil sie stark von der Nahrung abhängen. Als Allesfresser nimmt der Mensch Nahrung auf, die zudem auf verschiedene Weise ver-/bearbeitet wurde. Reine "Rohkost", also unverarbeitete Nahrung, nimmt er eigentlich nur als Gemüse und/oder Salate auf, und das in der Regel als Beilage, also nicht als Hauptnahrung. Entsprechend variieren Angaben zur Durchgangszeit, die von Beginn mit 12 Stunden nach der Nahrungsaufnahme bis 120 Stunden als Verdauung der letzten Reste einer Mahlzeit reicht. Als Durchschnitt finden sich häufig Werte von 60-70 Stunden - also 2,5-3,0 Tage.

Wildkaninchen nehmen vorwiegend in der Dämmerung und den Nachtstunden die größten Mengen an Nahrung auf, die ca. 80% Wasser enthält. Bereits nach durchschnittlich 5 Stunden werden die ersten Bestandteile der Nahrung ausgeschieden, die letzten nach 5 Tagen. Bei einer Darmlänge von 5,6 m beträgt die mittlere Durchgangsgeschwindigkeit der Nahrung im Darm 4,7 cm/Stunde bzw. 1,1 m/Tag (Mangold, 1951a). Grundsätzlich erhöht das Wasser in der Nahrung bzw. zusätzlich bereitgestelltes Wasser die Durchgangsgeschwindigkeit des Nahrungsbreis im Darm. Mangold (1951b) ermittelte in Versuchen mit einem trockenen Futter und Trinkwasser die Ausscheidung der letzten Bestandteile zwischen dem 5. und 7. Tag. Mit Grünfutter und Wasser dagegen endete die Ausscheidung am 4. Tag. Das bedeutet, dass das Futter, welches der arttypischen Nahrung des Kaninchens am nächsten kam, auch über die kürzeste Durchgangszeit durch den Darm verfügte bzw. die höchste Durchgangsgeschwindigkeit im Darm aufwies. Zusammenfassend wurde festgestellt: "Sowohl die Beigabe von Grünfutter wie von reichlichen Wassermengen, als Trinkwasser oder mit der Magensonde gegeben, wirken verkürzend auf die Durchgangszeiten des Futters, indem sie die Ausscheidung am 1. und 2. Tage erhöhen und eine frühere Beendigung der Ausscheidung herbeiführen.“ (Mangold, 1951b). (Carabaño, et al., 2010) fassten sehr viele Untersuchungsergebnisse zu den Futter-Durchgangszeiten (Trockenfutter) durch den Darmtrakt bei Kaninchen zusammen. Demnach hängt die Geschwindigkeit des Durchgangs der Nahrung u. a. vom Alter und physiologischen Zustand der Tiere sowie der Futteraufnahme (ad libitum oder restriktiv), der Partikelgröße und dem Fasergehalt der Nahrung ab.

Die natürliche, arttypische Nahrung des Wildkaninchens enthält bestimmte Eiweiße, Fette, Mineralien und „Ballaststoffe“ in einer Art und Zusammensetzung, auf die der Darm mit seiner Länge, dem inneren Aufbau und seiner Darmflora besonders im Blinddarm bestens angepasst ist. Der Begriff „Darmflora“ ist nach heutiger Kenntnis eigentlich nicht mehr korrekt, da Bakterien, wie früher angenommen, nicht zur Pflanzenwelt gehören. Heute finden sich dafür öfters die Begriffe „Mikrobiom“ für die Gesamtheit der Mikroorganismen eines Lebwesens und genauer „Darmmikrobiota“ für die Mikroorganismen, die im Darm leben. Im Blinddarm des erwachsenen Kaninchens leben vor allem solche Bakterien, die zum Teil Cellulose und Hemicellulosen abbauen können. Dabei handelt es sich um Kohlenhydrate, die Bestandteil der Zellwände von Pflanzen sind. Diese und Lignin beeinflussen wesentlich die Verdaulichkeit der Nahrung.

Kaninchen fressen bevorzugt die Blätter von Pflanzen, weil diese relativ reich an Nährstoffen sind, aber wenig schwer- und unverdauliche Stoffe enthalten. Auf Grund der Konsistenz der Blätter müssen diese intensiv gekaut werden. Im Magen und Dünndarm werden Eiweiße, Fette, Vitamine und verschiedene Kohlenhydrate verwertet, über die Darmwand in das Blut und mit diesem an die jeweiligen Zielorte (z. B. Organe) transportiert. Der Teil der Nahrung, der die Energie und die Nährstoffe enthält, beträgt nur ca. 20%, die anderen 80% sind Wasser. Der Darm ist sehr lang und die Nahrung wandert sehr schnell durch den Verdauungstrakt - eben wegen des vielen Wassers und der teilweise unverdaulichen Bestandteile.

Wie kann also das Kaninchen in der relative kurzen Zeit das, was es benötigt, aus der Nahrung absorbieren? Mehr dazu im nächsten Artikel.

Quellen:
Carabaño, R., et al. (2010): The Digestive System of the Rabbit. [Hrsg.] C. de Blas und J. Wiseman. Nutrition of the Rabbit. 2nd. Ed. CAB International. S. 1-18. ISBN 978-1-84593-669-3.
Kaetzke, J.; Niedermeier, J.; Masseti, M. (2003): Europäisches Wildkaninchen. In: Handbuch der Säugetiere Europas. Bd.3/2, Hasenartige. Krapp, F. & Niethammer, J. [Hrsg.]. Wiesbaden: Akad. Verl.-Ges. ISBN 3-89104-509-3
Lowe, J. A. (2010): Pet Rabbit Feeding and Nutrition. In: C. de Blas und J. Wiseman [Hrsg.]. Nutrition of the Rabbit. CAB International, 2010
Mangold, E. (1951a): Darmlänge, Durchgangszeit und Durchgangsgeschwindigkeit. Sitzungsberichte der Deutschen Akademie der Wissenschaften zu Berlin. Berlin: Akademie-Verlag
Mangold, E. (1951b): Die Futter-Durchgangszeiten beim Kaninchen. Archiv für Tierernährung. 136-147

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