Montag, 1. Januar 2018

Die Verdauung beim Kaninchen. Teil 1: Anatomie

Aus Zuschriften wird für mich deutlich, dass manches zum Thema "Verdauung" beim Kaninchen, über das ich locker und flockig hinweggehe, nicht wirklich von jedem verstanden wird. Meistens mündet das letztlich in die Frage: "Was bedeutet dann das jetzt für meine Fütterung?" Entweder ist die Fütterung von Kaninchen unheimlich kompliziert oder ich habe sie auf eine Weise erklärt, die für manche nicht nachvollziehbar ist. Deshalb habe ich mich entschlossen, in einer Serie das Thema von vorn nach hinten aufzudröseln und alles sehr vereinfacht darzustellen. Auf umfangreiche Quellenangaben zu bestimmten Werten und Formeln zur Berechnung werde ich hier verzichten, Interessierte können diese in meinem Buch "Das Kaninchen - Nahrung und Gesundheit" nachlesen. Wer die Artikel verfolgt, sollte am Ende besser verstehen, wie die Verdauung des Kaninchens "funktioniert", welche Futtermengen sie brauchen und fressen, wie diese ihnen schaden oder nutzen können und warum ich bestimmte Dinge ablehne oder empfehle. Wie immer gilt: Religionen und Ideologien interessieren mich an der Stelle nicht, es geht nur um das Tier, also das Kaninchen.

Für das Verständnis verschiedener Darmerkrankungen beim Kaninchen kommt man um eine Betrachtung der Besonderheiten das Verdauungssystems des Kaninchens nicht herum. Darmerkrankungen gehören mit zu den häufigsten Erkrankungen bei Hauskaninchen. Darmlänge und -aufbau sowie die Nahrung des Kaninchens bilden eine Einheit, deren Störung zwangsläufig zu Erkrankungen des Verdauungssystems führen kann, die dann ihrerseits wieder der Auslöser für weitere Erkrankungen des Organismus sein können. Wenn man weiß, wie das empfindliche System der Verdauung funktioniert, weiß man auch, wie sich bestimmte Alternativen in der Ernährung von Hauskaninchen auswirken können.

Anatomie des Darms 

In den folgenden Betrachtungen beziehe ich mich auf Wildkaninchen, die in Mitteleuropa leben, genauer auf Wildkaninchen in Deutschland. Die physiologischen Daten für das Kaninchen sind dem Werk von Kaetzke, et al. (2003) entnommen, die für den Menschen stellen Durchschnittswerte aus verschiedenen Literaturquellen dar.

Bild 1: Körperlänge von Wildkaninchen in Deutschland, in mm
















Bild 2: Körpergewicht von Wildkaninchen in Deutschland, in g
















Die beiden vorstehenden Diagramme sind sogenannte "Boxplots" oder "Whisker-Diagramme" (in Excel "Kastengrafik" genannt). Die Boxen verkörpern 50% aller Werte, die "Antennen" (Whisker") die oben und unten an die Boxen anschließen, jeweils 25%. Der waagerechte Strich in der Box ist der "Median", das Kreuz in diesen Fällen der arithmetische Mittelwert. Bei dem Punkt in Bild 2 links für die männlichen Tiere, der unterhalb des unteren Whisker liegt, handelt es sich um einen "Ausreißer", also einen Wert, der nicht in die Statistik "passt". Solche Werte können eine Verschiebung des Mittelwertes bewirken, weil sie in die Berechnung eingehen. Der Median bleibt davon unbeeinflusst, weil er der mittlere aller Werte ist und somit den Ausreißer nicht mit erfasst.

Die Digarmme zeigen, dass weibliche Wildkaninchen etwas schwerer und größer (länger) als männliche sind.

Bei Literaturangaben über die Körpergröße bzw. -länge muss man aufpassen, weil manche nur die Kopfrumpflänge angeben. In meinem Beispiel wurde die Länge der Hinterläufe zur Kopfrumpflänge addiert, weil ich beim Menschen ja auch die Beine in der Körperlänge berücksichtige.

Der Darm des Menschen ist bei einer durchschnittlichen Körperlänge von 1,70 m rund 7 m lang. Das heißt, im Verhältnis zur Körperlänge ist der Darm ungefähr viermal länger. Der Darm des Kaninchens ist ca. 4,5 m lang – bei einer Körperlänge von nur 0,50 m (Kopf bis einschließlich der Hinterfüße). Das bedeutet, dass der Darm des Kaninchens 9 Mal länger als sein Körper ist. Betrachtet man den Menschen und das Kaninchen im Vergleich, verfügt das Kaninchen also im Vergleich zur Körpergröße über einen Darm, der doppelt so lang wie der des Menschen ist. 

Bild 1: Körpergröße und Darmlängen von Mensch 
und Kaninchen im Vergleich
Zurückführen lässt sich dieser Unterschied auf die unterschiedliche Nahrung, denn während der Mensch ein „Allesfresser“ (Omnivore) ist, ernährt sich das Kaninchen ausschließlich von pflanzlicher Nahrung - es ist also ein "Pflanzenfresser" (Herbivore). Diese Nahrung verfügt über einen hohen Wassergehalt und über einen gewissen Anteil an unverdaulichen Stoffen.

Die Verdaulichkeit der Nahrung beeinflusst die Darmlänge: Fleischfresser haben den kürzesten Darm, weil sie leicht verdaulich ist; Allesfresser haben einen längeren Darm, weil der Anteil an unverdaulichen Bestandteilen höher ist und über den längsten Darm verfügen Pflanzenfresser, weil in ihrer Nahrung der Anteil an unverdaulichen Stoffen am höchsten ist. Manche Pflanzenfresser verfügen aus diesem Grund über mehrere Mägen. Das Kaninchen hat nur einen Magen, dafür aber einen vergleichsweise großen Blinddarm. Dort leben Bakterien, die einen Teil der Pflanzenfasern abbauen können.

Die Durchgangszeiten der Nahrung durch den Verdauungstrakt werden ganz unterschiedlich angegeben, weil sie stark von der Nahrung abhängen. Als Allesfresser nimmt der Mensch Nahrung auf, die zudem auf verschiedene Weise ver-/bearbeitet wurde. Reine "Rohkost", also unverarbeitete Nahrung, nimmt er eigentlich nur als Gemüse und/oder Salate auf, und das in der Regel als Beilage, also nicht als Hauptnahrung. Entsprechend variieren Angaben zur Durchgangszeit, die von Beginn mit 12 Stunden nach der Nahrungsaufnahme bis 120 Stunden als Verdauung der letzten Reste einer Mahlzeit reicht. Als Durchschnitt finden sich häufig Werte von 60-70 Stunden - also 2,5-3,0 Tage.

Wildkaninchen nehmen vorwiegend in der Dämmerung und den Nachtstunden die größten Mengen an Nahrung auf, die ca. 80% Wasser enthält. Bereits nach durchschnittlich 5 Stunden werden die ersten Bestandteile der Nahrung ausgeschieden, die letzten nach 5 Tagen. Bei einer Darmlänge von 5,6 m beträgt die mittlere Durchgangsgeschwindigkeit der Nahrung im Darm 4,7 cm/Stunde bzw. 1,1 m/Tag (Mangold, 1951a). Grundsätzlich erhöht das Wasser in der Nahrung bzw. zusätzlich bereitgestelltes Wasser die Durchgangsgeschwindigkeit des Nahrungsbreis im Darm. Mangold (1951b) ermittelte in Versuchen mit einem trockenen Futter und Trinkwasser die Ausscheidung der letzten Bestandteile zwischen dem 5. und 7. Tag. Mit Grünfutter und Wasser dagegen endete die Ausscheidung am 4. Tag. Das bedeutet, dass das Futter, welches der arttypischen Nahrung des Kaninchens am nächsten kam, auch über die kürzeste Durchgangszeit durch den Darm verfügte bzw. die höchste Durchgangsgeschwindigkeit im Darm aufwies. Zusammenfassend wurde festgestellt: "Sowohl die Beigabe von Grünfutter wie von reichlichen Wassermengen, als Trinkwasser oder mit der Magensonde gegeben, wirken verkürzend auf die Durchgangszeiten des Futters, indem sie die Ausscheidung am 1. und 2. Tage erhöhen und eine frühere Beendigung der Ausscheidung herbeiführen.“ (Mangold, 1951b). (Carabaño, et al., 2010) fassten sehr viele Untersuchungsergebnisse zu den Futter-Durchgangszeiten (Trockenfutter) durch den Darmtrakt bei Kaninchen zusammen. Demnach hängt die Geschwindigkeit des Durchgangs der Nahrung u. a. vom Alter und physiologischen Zustand der Tiere sowie der Futteraufnahme (ad libitum oder restriktiv), der Partikelgröße und dem Fasergehalt der Nahrung ab.

Die natürliche, arttypische Nahrung des Wildkaninchens enthält bestimmte Eiweiße, Fette, Mineralien und „Ballaststoffe“ in einer Art und Zusammensetzung, auf die der Darm mit seiner Länge, dem inneren Aufbau und seiner Darmflora besonders im Blinddarm bestens angepasst ist. Der Begriff „Darmflora“ ist nach heutiger Kenntnis eigentlich nicht mehr korrekt, da Bakterien, wie früher angenommen, nicht zur Pflanzenwelt gehören. Heute finden sich dafür öfters die Begriffe „Mikrobiom“ für die Gesamtheit der Mikroorganismen eines Lebwesens und genauer „Darmmikrobiota“ für die Mikroorganismen, die im Darm leben. Im Blinddarm des erwachsenen Kaninchens leben vor allem solche Bakterien, die zum Teil Cellulose und Hemicellulosen abbauen können. Dabei handelt es sich um Kohlenhydrate, die Bestandteil der Zellwände von Pflanzen sind. Diese und Lignin beeinflussen wesentlich die Verdaulichkeit der Nahrung.

Kaninchen fressen bevorzugt die Blätter von Pflanzen, weil diese relativ reich an Nährstoffen sind, aber wenig schwer- und unverdauliche Stoffe enthalten. Auf Grund der Konsistenz der Blätter müssen diese intensiv gekaut werden. Im Magen und Dünndarm werden Eiweiße, Fette, Vitamine und verschiedene Kohlenhydrate verwertet, über die Darmwand in das Blut und mit diesem an die jeweiligen Zielorte (z. B. Organe) transportiert. Der Teil der Nahrung, der die Energie und die Nährstoffe enthält, beträgt nur ca. 20%, die anderen 80% sind Wasser. Der Darm ist sehr lang und die Nahrung wandert sehr schnell durch den Verdauungstrakt - eben wegen des vielen Wassers und der teilweise unverdaulichen Bestandteile.

Wie kann also das Kaninchen in der relative kurzen Zeit das, was es benötigt, aus der Nahrung absorbieren? Mehr dazu im nächsten Artikel.

Quellen:
Carabaño, R., et al. (2010): The Digestive System of the Rabbit. [Hrsg.] C. de Blas und J. Wiseman. Nutrition of the Rabbit. 2nd. Ed. CAB International. S. 1-18. ISBN 978-1-84593-669-3.
Kaetzke, J.; Niedermeier, J.; Masseti, M. (2003): Europäisches Wildkaninchen. In: Handbuch der Säugetiere Europas. Bd.3/2, Hasenartige. Krapp, F. & Niethammer, J. [Hrsg.]. Wiesbaden: Akad. Verl.-Ges. ISBN 3-89104-509-3
Lowe, J. A. (2010): Pet Rabbit Feeding and Nutrition. In: C. de Blas und J. Wiseman [Hrsg.]. Nutrition of the Rabbit. CAB International, 2010
Mangold, E. (1951a): Darmlänge, Durchgangszeit und Durchgangsgeschwindigkeit. Sitzungsberichte der Deutschen Akademie der Wissenschaften zu Berlin. Berlin: Akademie-Verlag
Mangold, E. (1951b): Die Futter-Durchgangszeiten beim Kaninchen. Archiv für Tierernährung. 136-147

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