Samstag, 29. August 2020

Qualzucht

Einleitung

In letzter Zeit häufen sich Bestrebungen, bestimmte Zuchtformen von Kaninchen als „Qualzuchten“ zu bezeichnen. Im Moment handelt es sich dabei um Zwergkaninchen mit weniger als 1,0 kg Körpergewicht sowie Widderkaninchen mit „Hängeohren“ und Rassen mit kurzem bzw. runden Kopfformen. 

Von einer „Initiative“, die auch von Tierärzten unterstützt wird, wurde dazu ein „Flyer“ mit äußerst fragwürdigen Behauptungen öffentlich zur Verfügung gestellt. Auf der Webseite dieser „Initiative“ werden diese etwas ausführlicher erläutert. Als Beleg für die Behauptungen werden am Ende der jeweiligen Seiten Literaturangaben geliefert - also nicht der jeweiligen Behauptung zugeordnet, wie es eigentlich üblich ist. Insofern ist Zuordnung der Quelle zur jeweiligen Behauptung schwierig. Vielleicht war auch genau das beabsichtigt. 

Einen weiteren Beitrag mit Behauptungen über „tierschutzrelevante Zuchtformen“ bei Kaninchen lieferte das 2019 erschienene Merkblatt 157 der Tierärztlichen Vereinigung für Tierschutz (TVT. 

In diesem Beitrag gehe ich am Ende auf die gebotenen Literaturquellen der „Initiative“ ein, soweit sie mir zur Verfügung stehen. Am Anfang steht ein sehr kurzer Abriss der Geschichte der Rassezucht in Bezug auf die eingangs erwähnten Zuchtformen. Anschließend wird auf verschiedene Behauptungen eingegangen.

Eine sehr kurze Geschichte der Zucht bestimmter Rassekaninchen 

In der Natur sind Wildkaninchen als typische Beutetiere den verschiedensten Gefahren ausgesetzt. Ihre Lebensgewohnheiten sowie ihre Physis sind an diese Gegebenheiten angepasst und nur jene Tiere, die am besten angepasst sind, verfügen über gute Chancen für ein Überleben. 

1864 verglich Herbert Spencer in seiner Auseinandersetzung mit dem Buch „Die Entstehung der Arten“ von Charles Darwin dessen Theorie der „Natürlichen Zuchtwahl“ (Selektion) mit seiner eigenen und schrieb: „Applying alike to the lowest and the highest forms of organization, there is in all cases a progressive adaptation; and a survival of the most adapted. … This survival of the fittest, which I have here sought to express in mechanical terms, is that which Mr. Darwin has called “natural selection, or the preservation of favoured races in the struggle for life“. Charles Darwin ging 1868 noch einmal darauf ein und notierte: „Dass während des Kampfes um das Dasein diejenigen Varietäten erhalten werden, welche irgend einen Vortheil in ihrer Structur, Constitution oder ihrem Instinkt darbieten, habe ich natürliche Zuchtwahl genannt und Herbert Spencer hat für diese Idee den ganz guten Ausdruck „Überleben des Passendsten.“ (Hervorhebung A. R.). 

Mit der Entnahme des Wildkaninchens aus der Natur ergaben sich Veränderungen des Phänotyps, welche schlicht unter anderem darauf beruhten, dass es keinem Feinddruck mehr ausgesetzt war. Der fehlende, tägliche Überlebenskampf mit weniger Bewegung und der nötigen Aufmerksamkeit sowie alternative Ernährungsweisen führten zu einer Reihe messbarer Unterschiede im Vergleich zum Wildkaninchen. Arbeiten darüber existieren z. B. von Müller, 1919 und Fischer, 1973. Von Herre & Röhrs, 1990 wurden diese Informationen, neben denen von anderen Hautieren, zusammengefasst.

Tabelle 1: Veränderungen verschiedener Organe von Hauskaninchen im Vergleich zu Wildkaninchen, aus Herre und Röhrs, 1990 



 




Anatomische Beschreibung mit Zeichnungen der Unterschiede des Schädels wie auch der Gehörgänge zwischen Wildkaninchen und „grossen hängeohrigen Kaninchen“ finden sich z. B. in einem Werk von Charles Darwin, welches 1868 in Deutschland unter dem Titel „Das Variieren der Thiere und Pflanzen im Zustande der Domestication“ erschien. 

Nach dem Deutsch-Französischem Krieg 1870-1871 gelangten Widderkaninchen aus Frankreich mit heimkehrenden Soldaten nach Deutschland und wurden hier weitergezüchtet. 1919 zitierte Ernst Müller in seiner Dissertation einen Kaninchenexperten seiner Zeit mit den folgenden Worten: "Wenn man die vielen, heutzutage existierenden Rassen ·des Hauskaninchens betrachtet, könnte man in der Tat daran zweifeln, ob diese verschieden geformten und gefärbten Tiere wirklich nur Rassen ein und derselben Art seien. Aber ebenso leicht wie sich das wilde, graue Kaninchen zu seinen verschiedenen Rassen umzüchten läßt, ebenso leicht verwildern diese wieder, wenn sie sich selbst überlassen werden, und sie nehmen, in allem wieder die Merkmale der alten Stammform an." (Gerhardt, 1909).

1968 wurde das Widderkaninchen in der BRD als Standard anerkannt und 1980 in der DDR. Karl Friedrich Dorn, 1975 sah die „Schlappohren“ der Widderkaninchen als Ergebnis der Domestikation, ähnlich wie bei verschiedenen Hunden, Schafen, Ziegen und Schweinen und als ein Ergebnis der Auslese durch den Züchter, welches nicht auf Mutation beruht. Beeinflussen lässt sich die Ohrlänge z. B. durch die Temperatur. In historischen Büchern sucht man vergeblich nach Hinweisen darauf, dass „hängeohrige“ und „kurz- bzw. rundköpfige“ Kaninchen besonders anfällig für Krankheiten wären. Zahnfehler spielten in allen Quellen so gut wie keine Rolle und parasitäre Erkrankungen wie z. B. die „Ohrräude“ wurden allgemein für alle Rassen abgehandelt, so beispielsweise von Mahlich, 1903; Schneider, 1911; Felden, 1921 und Joppich, 1946.

Neben der eigenständigen Art des nordamerikanischen Zwergkaninchens (Brachylagus idahoensis), existiert eine Zwergform des Europäischen Wildkaninchens auf der Insel Porto Santo. Diese Tiere wiegen nur etwa 700 g und stammen von einer Häsin mit ihrem Nachwuchs ab, die um 1418/19 auf der Insel ausgesetzt wurden (Darwin, 1868). 

Das Hermelinkaninchen als Beispiel für eine kleinwüchsige Zuchtrasse wurde erstmals 1884 auf einer Ausstellung in England gezeigt. Bis nach 1920 wurden Hermelinkaninchen aus England nach Deutschland importiert. Die reine deutsche Zucht des Blauaugenhermelins wurde 1919 erstmals in Leipzig ausgestellt. Der Rassestandard für das Hermelinkaninchen gibt ein Gewicht von 1,0-1,5 kg vor (Rassestandard 2018). Im Vergleich dazu beträgt das durchschnittliche Gewicht von Wildkaninchen in Deutschland 1,55 kg. Spanische Wildkaninchen der Unterart Oryctolagus cuniculus algirus sind dagegen deutlich kleiner als ihre deutschen Artgenossen. Ferreira et al, 2016 ermittelten für zwei verschiedene Regionen Durchschnittsgewichte von 1043 g (Oryctolagus cuniculus algirus) bzw. 1234 g (Oryctolagus cuniculus cuniculus).

Bild: Normalverteilung für die Gewichte von Wild- und Hauskaninchen nach Daten aus Kaetzke et al., 2003 (Oryctolagus cuniculus cuniculus (O. c. cuniculus)); Gewicht des Porto-Santo-Kaninchens nach Daten von Darwin, 1868; Gewicht von Oryctolagus cuniculus algirus (O. c. algirus)) nach Ferreira et al, 2016 und  Gewichtsbereich nach Zuchtstandard für Hermelinkaninchen (ZDRK-Standard, 2018)













Neben dem Porto-Santo-Kaninchen mit einem durchschnittlichen Gewicht von 700 g gibt es auch spanische Wildkaninchen, die einer natürlichen Zwergform entsprechen und ein Gewicht von 1000 g unterschreiten, welches z. B. die TVT für Hauskaninchen als „tierschutzrelevant“ ansieht.

BMEL-Gutachten und Experten

In einem Gutachten der „Sachverständigengruppe Tierschutz und Heimtierzucht“ (BMEL, 2005) zum §11b des Tierschutzgesetzes in Bezug auf Kaninchen wird auch ein Standardwerk von Rudolph & Kalinowski, „Das Hauskaninchen“ als Quelle angeführt. Aus der 2. Auflage, 1984 sei hier beispielhaft folgendes zitiert:

  • Zwergwuchs „Klinische Symptome: Nanasomie (proportionaler Zwergwuchs) der normalen Körpergröße, letal bei Homozygotie. Bei Heterozygotie: geringe Verkleinerung der Körper- und Ohrengröße, keine Einflüsse auf Vitalität. Bei Hermelinkaninchen aufgetreten. Genetik: Semidominante letale Mutatation, (DW/Dw) oder (nan/nan).“
  • Brachygnathia  superior „(Mandibuläre Prognathie) Klinische Symptome: Verkürzung des Oberkiefers, Anomalie der Schneidezähne; gestörte Proportionen zwischen Ober- und Unterkiefer; Überstand der unteren über die oberen Schneidezähne (anomale Okklusion), Abnutzung der nachwachsenden Schneidezähne unzureichend oder unmöglich; zunehmend erschwerte Futteraufnahme, Verhungern der Tiere. Ausprägung des Defekts bereits mit 6 Wochen möglich, aber auch in späterem Alter. Beobachtet bei Weißen Neuseeländern, Dänischer Landrasse, Japaner-Kaninchen u. a. Genetik: Autosomal-rezessive Vererbung mit unvollständiger Penetranz und Expressivität (mp/mp) oder polygener Erbgang.“
  • Tremor "Klinische Symptome: Schüttellähmung, erste Merkmale bis zum 14. Lebenstag. Verläuft in 3 Phasen:
  1. alle Stufen bis zu grober Zitterbewegung des Körpers; durch akustische Reize verstärkte Schüttelbewegung
  2. zusätzlich schlaffe Lähmung an Hinterextremitäten, im 2. Lebensmonat beginnend; verminderte Nahrungsaufnahme, körperlicher Verfall
  3. völlige Paralyse; Tod durch Entkräftung. Rammler steril (verminderte Spermiogenese), Häsinnen fruchtbar. Beim Widderkaninchen aufgetreten. Genetik: Autosomal-rezessiver Erbgang (tr/tr).“

Zusätzlich wurde zu genetischen Defekten von Kaninchen folgendes angemerkt: „In der auf Fleischproduktion gerichteten Kaninchenzucht sind genetisch bedingte Defekte dagegen meist unerwünscht. Wertvolle Vatertiere sollten möglichst keine Anlagenträger für Defekte sein, die die Vitalität beeinflussen. Eine von allen genetisch bedingten Defekten freie Population ist jedoch eine Illusion, da die im Regelfall immer vorhandenen Anlagen im homozygoten Zustand - der bei ungünstiger Paarungskonstellation eintritt - Merkmalsträger entstehen lassen.“ (Rudolph & Kalinowski, 1984)

Den, bei Widderkaninchen, aufgetreten Fall von „Tremor“ bzw. „Schüttellähmung“ wie auch die Suche nach dem Verursacher beschrieb Hans Nachtsheim 1949 in der zweiten Auflage des Buches „Vom Wildtier zum Haustier“. Die Schwierigkeit bei der damaligen Suche nach dem „schuldigen“ Tier lag darin, dass es sich dabei um ein rezessives (verdecktes) Erbmerkmal handelt. Wenn das Partnertier des Trägers gesund ist, erkrankt kein Tier der nächsten Generation daran, aber die Hälfte der Nachkommen trägt dieses Merkmal in ihrem Erbgut. Als Ausgangspunkt der Krankheit wurde seinerzeit schließlich der Rammler eines Züchters in Brandenburg identifiziert.

Prof. Dr. Rudolph ging 1997 in einem Artikel noch einmal etwas ausführlicher auf die Zucht von Zwergkaninchen ein. Dieser wurde, trotz der fachlichen Tiefe, in dem Gutachten nicht erwähnt. Aus der Zusammenfassung zitiert: „Faßt man die Darlegungen zusammen, so ist nachdrücklich festzustellen, daß die Zucht von Zwergkaninchen dem Tierschutz nicht zuwiderläuft. Sie ist auch nicht als Qualzucht einzustufen. […] Es ist zwischen Verzwergung (Ergebnis der Selektion) und den Zwergen (Einfluß eines Gens für Zwergwuchs) zu unterscheiden, und oft genug kommen beide Einflüsse in einem Tier zusammen, Die Wirkung von Letalfaktoren läßt sich durch sinnvolle Anpaarung der Genotypen ausschließen. Eine Kopplung zwischen dem Dw-Gen mit Genen, die Defekte hervorrufen (z. B. Zahn- oder Kieferanomalien}, ist nach heutigem Erkenntnisstand nicht gegeben. Genetische Defekte häufen sich besonders bei Inzucht. Es empfiehlt sich deshalb eine Zusammenarbeit mehrerer Züchter, um Linien aufzubauen und die Vorteile eines größeren, gemeinsam zu lenkenden Zuchttierbestandes, bei dem die Tiere im persönlichen Besitz bleiben, für ausreichende Fruchtbarkeit und Verbesserung der Gesundheit (Hybrideffekt durch Linienkreuzung) zu nutzen. Und künftig mögen die Kaninchenzüchter bei Sendungen oder Beiträgen der Medien folgenschwere „Verwechslungen“ von wissenschaftlichen Tatbeständen, die sich dann daraus herleitenden irrigen Schlußfolgerungen sowie das verschwommene fachliche Gefasel mancher Kritikaster erspart bleiben. (Hervorhebung A. R.). Dem Wunsch schließe ich mich vollinhaltlich an, auch wenn er sich nicht erfüllen wird. Künftig wird wohl auch das Geschlecht von Kaninchen wahrscheinlich nicht mehr bestimmt, sondern konstruiert.
  
Während z. B. in der Forschung mit Kaninchen als Versuchstieren bewusst Linien mit Gendefekten gezüchtet wurden, um das Entstehen und die Übertragung von Krankheiten zu untersuchen, wurde und wird in der organisierten Rassekaninchenzucht alles dafür getan, Gendefekte aus der Zucht auszuschließen. Zu diesem Zweck werden Abstammungen in „Herdbüchern“ dokumentiert. Kein Rassekaninchenzüchter hat ein Interesse daran, seine Plätze mit kranken Tieren zu belegen oder solche weiterzugeben.

Hörsinn

Im Zusammenhang mit den "hängenden Ohren" der Widderkaninchen wird eine verringerte Hörleistung für diese Rasse behauptet. 

Bis vor einiger Zeit hätte ich dieser Behauptung vorbehaltlos zugestimmt, weil  ich der Meinung war, dass es durch die Veränderung der Ohren bei Widderkaninchen in Form des schallauffangenden, äußeren Ohres zu Beeinträchtigungen des Hörsinns bei Widderkaninchen kommt.

Als Quelle für die Behauptung wird eine Dissertation von W. Claaßen aus dem Jahr 2018 angeführt. In dieser Arbeit wurde die Hörleistung von gesunden und kranken Kaninchen mit Kopfschiefhaltung verschiedenen Alters, Gewichtes sowie verschiedener Rassen untersucht.

Als Ergebnis von Voruntersuchungen folgendes festgestellt: "Es zeigten sich große Abweichungen der Hörschwelle innerhalb der verschiedenen Tiergruppen. Auch in der Gruppe der klinisch gesunden Tiere wiesen einige Kaninchen sehr hohe Hörschwellen (bis 110 dB HL) auf. Im Gegensatz dazu gab es einige Kaninchen, die bei 0 dB HL noch sehr ausgeprägte Hörkurven aufwiesen. Aufgrund der hohen Variabilität der Hörschwelle, überstieg häufig die Standadabweichung die Mittelwerte, aus diesem Grund wurden die Mediane verwendet. Mit dem Nicoletgerät war es nicht möglich unterhalb von 0 dB zu messen. Aus diesem Grund wurde für diese Tiere eine Hörschwelle von –5 dB HL angenommen." (S. 71).

Weiterhin wurde folgendes festgestellt: "Die Hörschwelle der FAEP bei klinisch gesunden Tieren lag im Median bei -5 (-5 – 22,5) dB nHL mit einen Minimum bei –5 und einen Maximum bei 110 dB, es stellten sich einige der gesunden Tiere als taub heraus." (S. 89).

Um die Erklärungen etwas abzukürzen, sollen die zwei folgenden Tabellen aus der Dissertation die Frage nach einer pauschalen, geringeren Hörleistung beantworten. Rot eingerahmt sind die Bereiche für die Hörschwelle aller gesunden Tiere und die von gesunden Widdern. Ich war selbst etwas überrascht, denn wie bereits erwähnt, war ich auch der Annahme, dass Widder grundsätzlich etwas schlechter hören. Tatsächlich sind sie aber sehr wohl in der Lage, den (angenommenen) niedrigsten Wert der Hörschwelle zu erreichen.


 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

Das heißt, dass die Ergebnisse dieser Arbeit die Behauptung widerlegen, dass Widderkaninchen pauschal schlechter hören als Kaninchen mit Stehohren. Die sehr große Variabilität in den Meßwerten lässt darauf schließen, dass individuelle Eigenheiten das Hörvermögen stark beeinflussen. 

Sehfeld/Sehraum

Es wird behauptet, dass hängende Ohren bei Widderkaninchen zu einem eingeschränkten Sehfeld bzw. Sehraum führen. 

Für diese Behauptung wird eine Grafik geliefert, die das Sehfeld eines Kaninchens darstellen soll. Eine ganz ähnliche wurde von W. H. Leicht 1979 veröffentlicht und von mir etwas verändert in meinem Buch "Kaninchen würden Wiese kaufen" mit Angabe der Quelle übernommen. Bei der Übernahme ihrerseits hat die "Initiative" vergessen, eine der Quellen anzugeben und zudem nicht verstanden, dass diese Grafik das Sehfeld eines Wildkaninchens darstellt.














Dieses Sehfeld bzw. der gesamte Sehraum ergibt sich beim Wildkaninchen aus den Fakten, dass die Augen sehr groß sind und weit aus der Augenhöhle herausstehen.


Bei so gut wie allen Hauskaninchen haben sich, wie bereits erwähnt, u. a. Veränderungen in anatomischer Hinsicht ergeben, die sie deutlich von Wildkaninchen unterscheiden - und zwar unabhängig von der Rasse bzw. Ohrform - siehe auch die Werte in der Tabelle der Veränderungen der Organe von Hauskaninchen im Vergleich zu Wildkaninchen am Anfang des Artikels. Die Ohrform von Hauskaninchen mit einem verringerten Sehfeld in Verbindung zu bringen, ist also sinnfrei.




 

 

 

 

 

 

Kommunikation und Verhalten

Im Zusammenhang mit Schlappohren wird eine verringerte Kommunikationsfähigkeit sowie eine höhere Anfälligkeit für Ohrverletzungen bei Auseinandersetzungen behauptet. 

In seiner Dissertation verglich Richard Kraft 1976 Verhaltensweisen von Wildkaninchen mit Hauskaninchen und stellte u. a. zusammenfassend fest: "Bei Kaninchen fehlen dagegen feinere Ausdrucksm6glichkeiten. Eine Gesichtsmimik ist nicht erkennbar, lediglich die Schwanzhaltung besitzt Ausdruckscharakter und kann aggressive oder sexuelle Erregung signalisieren. Ritualisierte Verhaltensweisen, die für das soziale Zusammenleben eine Rolle spielen, beschränken sich bei Kaninchen nicht auf einzelne Körperteile wie Kopf oder Ohren, sondern erfassen den ganzen Körper. So äußert sich die Aggression gegen Rangniedere in aggressivem Jagen und Vorstoßen, die an Stelle von Drohgebärden die soziale Rangordnung aufrechterhalten und Verletzungen weitgehend verhindern."(S. 92, Hervorhebung A. R.) 

Das heißt, dass in der Kommunikation die Ohren so gut wie keines Rolle spielen. Bestätigen kann ich diese Feststellung aus eigenen Beobachtungen von Wildkaninchen und natürlich von Hauskaninchen mit Steh- und Schlappohren. Das folgende Bild gibt eine Situation zwischen Wildkaninchen wieder. Das rechte (flüchtende) Tier hatte sich etwas zu weit in das Territorium einer fremden Gruppe gewagt und wurde von deren Leitrammler (linkes, angreifendes Tier) vertrieben. Der Angriff erfolgte weitgehend ansatzlos - irgendwann war eine unsichtbare Grenze überschritten und der Leitrammler stürmte los. Die Ohrhaltung ist bei beiden Tieren unauffällig, aber die Blume (der Schwanz) des Angreifers ist steil aufgerichtet, was die Beobachtungen von R. Kraft bestätigt.


 

 

 

 

 

 

 

 

Normalerweise gehen Situationen wie diese gimpflich aus, also ohne schwere Verletzungen, weil unterlegene Tiere sich selten auf einen Kampf einlassen und flüchten. In der Heimtierhaltung ist dagegen oft das Platzangebot zu gering, so dass sich unterlegene Tiere nicht oder nur unzureichend zurückziehen können. Bei Bildern von aggressiven Tieren sollte möglichst das ganze Tier beachtet werden. Wenn wenn z. B. der Kopf weit in den Nacken gebogen ist, kommen die Ohren automatisch auf dem Rücken zu liegen. 

Interpretationen der Verhaltensweisen von Kaninchen sind für Laien nicht einfach und bisweilen werden wohl auch solche von anderen Tierarten auf sie übertragen. Wenn möglich, sollte bei Fragen der sozialen Kommunikation, insbesondere bei sogenannten "Vergesellschaftungen" einander fremder Tiere, ein wirklicher Experte hinzugezogen werden. Veröffentlichungen falscher Interpretationen können Tieren eventuell Schaden zufügen.

Wichtig ist aber zu wissen, dass die wichtigste Form der Kommunikation von Kaninchen der "Geruch" ist. Das Wissen darüber und seine Anwendung in der Heimtierhaltung könnte vielen Tieren wirklich helfen.

Verletzungen

Ein Konzept der Haltung von Haustieren beinhaltet ihre "Schadensfreiheit", also die Forderung an Tierhalter, mögliche Schäden am Tier zu verhindern. Im Fall der Kaninchen ist diese Forderung eigentlich nicht zu erfüllen, es sei denn, man hält sie einzeln. Das wiederum würde der Forderung widersprechen, sozial lebende Tiere einzeln zu halten. Das Paradoxon besteht darin, dass es in sozialen Gemeinschaften prinzipiell zu "Streit" kommen kann, der zu Verletzungen führt. Diese können nur ausgeschlossen werden, wenn Individuen so gehalten werden, dass sie keine anderen verletzen können - also allein. Beobachtung von mir an Wildkaninchen zeigen eine sehr hohe Verletzungsrate besonders der Ohren. Fast jedes Tier in den Gruppen weist mehr oder weniger starke Verletzungen an den Ohren auf, auch Jungtiere.


"Kurzköpfigkeit"

Zum Thema der kurzen und runden Köpfe von Hauskaninchen wurde in Vergangenheit vor allem von Seiten des Tierschutzes, aber auch von Tierärzten sehr viele Behauptungen aufgestellt und nicht eine davon konnte bisher wissenschaftlich belegt werden. Die "Initiative" reiht sich mit ihren Aufstellungen von Fakten und Zahlen dabei nahtlos ein. Diese stammen in der Regel aus verschiedenen Untersuchungen (Studien) und sollen dazu dienen, bestimmte Behauptungen zu untermauern. Gern werden auch aus Gründen der Quantität noch Quellen wie Bücher angeführt, die in der Regel zwar solche Themen behandeln, aber nicht das Zustandekommen von Ergebnissen. Auf der Webseite der Initiative heißt es öfters: "Fakten aktueller Studien" ohne diese konkret zu benennen. Geliefert wird am Ende der Seiten dann ein Literaturverzeichnis. Wo nun also die jeweils konkreten "Fakten" herkommen, muss man erraten. Somit ist es auch nicht möglich, falsche Behauptungen anhand der konkreten "Studien" nachzuweisen, was wohl auch die Absicht ist. Dem Thema der "Kurzköpfigkeit" wird von der "Initiative" eine eigene Seite gewidmet, auf der von "Brachyzephalie" die Rede ist. Auch ich werde das Thema noch gesondert behandeln.

Hier noch eine Betrachtung der Literatur zur "Problematik" von Widderkaninchen, die von der "Initiative" geboten wird.

Literatur

  • Capello, V. (2006, January). Lateral ear canal resection and ablation in pet rabbits. In Proceedings of the North American Veterinary Conference, Orlando, Florida (pp. 7-11).

liegt mir nicht vor. Konferenzbeitrag, dessen Titel vermuten lässt, dass es sich um medizinische Aspekte der Behandlung von Ohrerkrankungen geht. Als Beleg für Behauptungen über "Qualzucht" ungeeignet

  • Capello, V. (2018, April). Ear surgery of pet rabbits. In BSAVA Congress Proceedings 2018 (pp. 50-51). BSAVA Library.

Buch mit gesammelten, kurzen Abhandlungen. Medizinischer Beitrag über 2 Seiten. Als Beleg für Behauptungen über "Qualzucht" ungeeignet

  • Claaßen, W. 2004. Hörschwellenbestimmung mittels früher akustisch evozierter Potentiale zur klinischen Diagnostik bei gesunden und erkrankten Kaninchen mit Kopfschiefhaltung. Tierärztliche Hochschule Hannover. Dissertation

siehe Absatz "Hörsinn" in diesem Artikel. Als Beleg für Behauptungen über "Qualzucht" ungeeignet

  • Csomos, R., Bosscher, G., Mans, C., & Hardie, R. (2016): Surgical management of ear diseases in rabbits. Veterinary Clinics: Exotic Animal Practice, 19(1), 189-204

Reviewartikel über die Behandlung von Ohrerkrankungen. Als Beleg für Behauptungen über "Qualzucht" ungeeignet

  • Eatwell, K. (2013): Diagnosis of otitis externa, media and interna in rabbits. Veterinary Times, 43(13), 20-22

Behauptung: "Lop breeds are predisposed to otitis due to their altered anatomy (Chow, 2011; Capello, 2004)". In der Literaurliste fehlt die Quelle von Chow, 2011. Es gibt zwei Artikel von Chow aus dem Jahr 2011 - sie beinhalten einmal die medizinische Behandlung von Otitiden und zum Zweiten eine Fallbeschreibung eines Kaninchens (Case study). Als Beleg für Behauptungen über "Qualzucht" ungeeignet

  • Eatwell, K., Mancinelli, E., Hedley, J., Keeble, E., Kovalik, M., & Yool, D. A. (2013). Partial ear canal ablation and lateral bulla osteotomy in rabbits. Journal of Small Animal Practice, 54(6), 325-330
Case Report: Beschreibung der Behandlung von 6 Otitis-Fällen bei Widderkaninchen (2011-2012). Behauptung: "Lop breed rabbits are predisposed to otitis because of their pinna anatomy (Chow 2011, Mayer 2011).". Als Beleg für Behauptungen über "Qualzucht" ungeeignet
  • Eckert, Y., Witt, S., Reuschel, M., & Fehr, M. (2017): Otitis beim Kaninchen–Symptome, Diagnostik und Therapiemöglichkeiten. kleintier konkret, 20(S 02), 2-9

"Widder-Kaninchen haben aufgrund ihrer anatomisch bedingt stenotischen Gehörgänge eine Prädisposition für Otitiden [[7], [13]]" Bei den angegebenen Quellen handelt es sich um Chow, 2011 und Eatwell, 2013, in denen ebenfalls Behauptungen aufgestellt werden.

  • Mäkitaipale, J., Harcourt-Brown, F. M., & Laitinen-Vapaavuori, O. 2015. Health survey of 167 pet rabbits (Oryctolagus cuniculus) in Finland. Veterinary Record. Vol. 177, Issue 16. 418

Auswertung des Gesundheitszustandes von Hauskaninchen in Finnland. Zusammenfassung der Befunde: 40,1% erworbene Zahnerkrankungen, 31,1% Wirbelsäulendeformationen und degenerative Läsionen, 16,8% Hautkrankheiten und 7,2% Augenkrankheiten. Als Beleg für Behauptungen über "Qualzucht" ungeeignet

  • De Matos, R. E. C. 2014. Computed Tomography of Clinical and Subclinical Middle Ear Disease in Domestic Rabbits (Oryctolagus cuniculus). Universidade de Lisboa. Dissertação

Dissertation mit der Auswertung von CT-Bildern von insgesamt 88 Kaninchen über einen Zeitraum von 2007-2014: "Although there was no correlation between ear position and clinical or subclinical ear disease, there was a statistically significant correlation between lop ears and presence of CT changes of the middle ear". (Hervorhebung A. R.). Veränderungen des Gehörgangs von Schlappohrkaninchen sind schon seit Charles Darwin bekannt. Als Beleg für Behauptungen über "Qualzucht" ungeeignet sondern eher ein Beleg für eine falsche Hypothese

  • De Matos, R. E. C., Ruby, J., Van Hatten, R. A., & Thompson, M. 2015. Computed tomographic features of clinical and subclinical middle ear disease in domestic rabbits (Oryctolagus cuniculus): 88 cases (2007–2014). Journal of the American Veterinary Medical Association, 246(3), 336-343.

Extrakt der Dissertation von De Matos, 2014. Als Beleg für Behauptungen über "Qualzucht" ungeeignet

  • Reuschel, M. 2018. Untersuchungen zur Bildgebung des Kaninchenohres mit besonderer Berücksichtigung der Diagnostik einer Otitis. Deutsche Veterinärmedizinische Gesellschaft Service GmbH, Gießen. Dissertation. ISBN 978-3-86345-460-9

Die Arbeit wurde von mir in einem Artikel der Kleintiernews besprochen:  Rühle, A. (2020): Zuchtformen und „Qualzucht“. Kleintiernews 57/2020. S. 22-31. Als Beleg für Behauptungen über "Qualzucht" ungeeignet

  • Varga, M. 2013. Textbook of Rabbit Medicine. 2nd Edition. Butterworth-Heinemann. ISBN 9780702049798

2. Ausgabe des Standardwerks von F. Harcourt-Brown. Als Beleg für Behauptungen über "Qualzucht" ungeeignet

Doppelte oder falsche Literaturangaben der "Initiative" blieben in dieser Aufstellung unberücksichtigt, ebenso das BMEL-Gutachten (siehe Abschnitt "BMEL-Gzutachten und Experten").

Zusammenfassend lässt sich feststellen, dass alle Behauptungen der "Initiative" in Bezug auf eine angebliche Problematik von Widderkaninchen wissenschaftlich nicht belegt sind. Mehr noch: es werden sogar zwei Quellen angegeben, die den Zusammenhang der Ohrform und Otitiden nicht belegen konnten (De Matos, 2014 und De Matos, 2015). Festgestellt werden kann allgemein ein Trend in Veröffentlichungen, seiner eigenen Behauptung als Beleg einfach andere Quellen anzugeben, in denen das gleiche unbelegt behauptet wird.

Warum dieser Aufwand?

Unabhängig von der Ohrform leiden sehr viele Hauskaninchen an sehr vielen Erkrankungen. Diese sind in der Regel "multifaktoriell" verursacht - es spielen also mehrere Gründe eine Rolle, warum ein Tier erkrankt. Die wichtigsten sind Haltungsbedingungen und Ernährung. Mit dem beständigen Verweis auf Züchter bzw. Zuchtformen wird von diesen Krankheitsursachen abgelenkt. Halter sind somit versucht, diese nicht bei sich zu suchen, sondern bei einem imaginären Feind. 

Aus diesem Grund werde ich immer ideologischen Bestrebungen entgegentreten, die geeignet sind, Tieren zu schaden. 

Die "Initiative" hat sicher erkannt, wer hier konkret gemeint ist. Sie bzw. ihre Vertreterinnen sind herzlich eingeladen, Sachverhalte bzw. Fakten mit mir zu diskutieren. Die Webseite wurde von mir aus verschiedenen Gründen bewusst nicht genannt bzw. verlinkt.

An alle Leser: ich kann Sie nur herzlich darum bitten, sich nicht von einer Fülle von Literaturangaben beeindrucken zu lassen, die oft als Beleg für irgendwelche Behauptungen geliefert werden. Folgen Sie diesen und lesen Sie diese auch. Sie werden schnell merken, dass sich wirre Zahlenspielereien und -angaben in der Regel als heiße Luft entpuppen. Nicht selten werden simpelste Grundlagen der Statistik missachtet, weil sie schlicht nicht bekannt sind. Sie werden schnell Routine darin entwickeln, falsche Behauptungen zu durchschauen. Wenn Sie das auch noch öffentlich machen, können Sie Tieren helfen,  denn je mehr "Ersatzgründe" für Erkrankungen wegfallen, umso mehr müssen Tierhalter die Gründe bei sich selber suchen. Vielen Dank!

Das Thema "Qualzucht" sowie dazu gehörige Behauptungen aus dem Tierschutz und von Tierärzten wird in naher Zukunft fortgesetzt.

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Qualität und Quantität (2)