Dienstag, 25. Februar 2020

Gift- oder Heilpflanze?

Einleitung

In Beratungen von Kaninchenhaltern werde ich in Bezug auf Empfehlungen für die Fütterung von speziellen Wiesenpflanzen immer wieder mit der Frage konfrontiert: „Aber ist die nicht giftig?“. Wenn ich pauschal „Nein“ sagen würde, egal welche Pflanze gemeint ist, würde ich lügen, denn alles, was ein Tier (oder der Mensch) aufnimmt, kann ab einer bestimmten Menge gesundheitsschädigend oder gar tödlich wirken.

In Diskussionen um sogenannte „Giftpflanzen“ gibt es oft zwei strikt getrennte Lager, die sich gegenseitig jeweils einen falschen Umgang mit diesem Thema vorwerfen: die „Übervorsichtigen“ und die „Verharmloser“. Die Mitte schweigt oft, um nicht einem dieser Lager zugeordnet zu werden. Ich selbst rechne mich keinem der Lager oder der Mitte zu - ich beurteile Fakten.

Ein grundsätzliches Problem stellt bereits die Frage dar, was eigentlich "Gift" ist.

Was ist "Gift"?

Theophrastus Bombast von Hohenheim, der sich "Paracelsus" nannte, beschrieb bereits 1538 ein Problem im Zusammenhang mit der Gift- oder Heilwirkung und stellte fest: „Dosis sola venenum facit“ (Allein die Dosis machts, daß ein Ding kein Gift sei).

Das Deutsche Reichsgericht beschäftigte sich 1884 im Zusammenhang mit einem Kriminalfall mit dem Begriff "Gift" und formulierte in der Urteilsbegründung folgendes:


Selbst das Lebenselexier schlechthin, das Wasser, kann gemäß den Beschreibungen zu Gift werden. Es kommt offensichtlich darauf an, in welcher Zeit eine bestimmte Menge eines bestimmten Stoffes aufgenommen wird.

Teuscher & Lindequist, 2010 gingen in sehr ausführlicher Weise auf biogene Gifte ein und schrieben u. a.: "Die Gefährlichkeit einer giftigen Pflanze oder eines giftigen Tieres für Menschen oder Tiere hängt nicht allein von der Toxizität der Inhaltsstoffe ab, sondern wird in der Praxis in entscheidendem Maße von dem Grad ihrer Zugänglichkeit für Mensch oder Nutztier bestimmt und davon, ob Anreiz zum Verzehr bzw. zur Kontaktnahme besteht (toxikologische Relevanz).".

Peter R. Cheeke, 1998 stellte fest, dass bei einer bestimmten Dosierung pharmakologische Eigenschaften von Toxinen (Giften), nützlich sein können, bei höheren Konzentrationen jedoch giftig. Interessant sei auch, dass viele natürliche Toxine giftiger Pflanzen tatsächlich medizinisch verwendet werden, insbesondere in pflanzlichen Präparaten. Bei Toxinen handle es sich um Stoffe, die unter praktischen Umständen den tierischen Stoffwechsel beeinträchtigen und in der Tierproduktion negative biologische oder wirtschaftliche Auswirkungen haben können. Dies wäre aber eine weit gefasste Definition, denn praktisch sei alles giftig, einschließlich Sauerstoff, Wasser und alle Nährstoffe, wenn es nur in einer genügend großen Dosis gegeben wird.

Frohne & Pfänder, 2005 merkten an, dass ältere Auflistungen ca. 750 biogene Giftstoffe aufführen, die in über 1000 Pflanzenarten vorkommen würden, wobei die Zahl der eigentlichen „Giftpflanzen“ aber wesentlich geringer sei. Unter diesem Terminus seien solche zu verstehen: „die tatsächlich zu Intoxikationen von Menschen und Tieren führen oder geführt haben. Nur bei einer kleinen Gruppe von Pflanzen ruft schon die Ingestion geringer Mengen pflanzlichen Materials schwerwiegende Intoxikationen hervor; die übrigen Pflanzen, die aufgrund ihrer Inhaltsstoffe als giftig angesehen werden müssen, sind in der Regel weit weniger gefährlich und führen nur unter bestimmten, nicht immer gegebenen Voraussetzungen zu einer Vergiftung. Bei einer dritten Gruppe von "Giftpflanzen" schließlich, die herkömmlicherweise als solche eingestuft werden, sind bisher weder definierte Giftstoffe noch einwandfrei dokumentierte, schwerere Vergiftungsfälle bekannt.".

Der Duden, 2000 u. 2003 definiert die Giftpflanze als solche: „die einen giftigen Stoff enthält, der bei Menschen u. Tieren eine schädliche, zerstörende, tödliche Wirkung hat“. Dagegen sei eine Heilpflanze, die: „wegen ihres Gehaltes an pharmakologisch wirksamen Alkaloiden, Glykosiden, ätherischen Ölen, Bitter-, Gerb-, Schleim- o. ä. Wirkstoffen therapeutisch“ nutzbar ist.

Am Beispiel der Alkaloide wird bereits deutlich, dass pflanzliche Substanzen sowohl als giftig wie auch als heilend angesehen werden können – es kommt eben auf den Pflanzenstoff und die Dosis an. Viele Giftstoffe gehören zu den „Sekundären Pflanzenstoffen“. Diese sind zwar für den Grundstoffwechsel der Pflanzen ohne Bedeutung, erfüllen für sie aber viele wichtige Funktionen. Sie können z. B. als Lockstoffe dienen, aber auch als Fraßschutz. Geruch, Geschmack oder Wirkung sollen vom Verzehr durch Pflanzenfresser abhalten. Mit Hilfe von Duftstoffen warnen sich z. B. Bäume untereinander über den Befall von Schädlingen, so dass Nachbarn eines betroffenen Baums sich durch die rechtzeitige Bildung von Abwehrstoffen auf diese vorbereiten können.

Der Begriff „Gift“ ist also recht unbestimmt und abhängig von einer Reihe von Faktoren, die aber nicht immer für die gleiche Pflanze im gleichen Maß und für jedes Individuum zutreffen.

Giftigkeit bzw. Toxizitätsgrad

Die Giftigkeit bzw. Toxizität eines Stoffes hängt von der Dosis (über eine Zeit) und der Art der Aufnahme ab und wirkt verschieden auf Gewebe und Organe. Für den Grad einer Toxizität existieren verschiedene Einstufungen, am bekanntesten ist sicher die Aufstellung von Toxizitätsklassen von Hodge & Sterner, 1949.

Im Internet existiert die Schweizer Datenbank „CliniTox“, 2018, welche viele Informationen über Giftstoffe und auch „Giftpflanzen“ liefert, die für Diskussionen gern genutzt werden. Persönlich sehe ich diese Datenbank eher kritisch, weil sie nur stark verkürzt Informationen bietet, deren Herkunft nicht immer ohne weiteres nachvollzogen werden kann. Ohne entsprechendes Hintergrundwissen können diese auch missbräuchlich genutzt werden. Ich werde mich in diesem Artikel aber auf deren Einteilung des „Gefährlichkeitsgrads“ von Stoffen und Pflanzen stützen, weil sie ohne Einschränkungen allgemein zugänglich ist. Ergänzt werden die Informationen von mir durch solche aus der Fachliteratur in Bezug auf Pflanzengifte.

Tabelle 1: Gefährlichkeitsgrade, Auszug aus „CliniTox Giftpflanze: Erläuterungen: Toxikologie“, Clinitox (2018); erweitert um Beispiele


Es existieren dort noch weitere Abstufungen der Gefährlichkeitsgrade, an dieser Stelle sind die aufgeführten aber erst einmal ausreichend. Die Angabe der jeweils aufzunehmenden Pflanzenmengen ist mit „gering, klein, groß und massiv“ natürlich äußerst vage.

Die Bestimmung der Toxizität eines Stoffes erfolgt in Tierexperimenten, vornehmlich an Mäusen und Ratten. Dabei wird unterschieden, wie die Verabreichung des giftigen Stoffes erfolgte. Angegeben werden die Verabreichungsform mit Abkürzungen, von denen die wichtigsten folgendes bedeuten:

Tabelle 2: ausgewählte Abkürzungen für Applikationsformen von Substanzen


Die Bewertung der akuten Toxizität wird nach der jeweiligen Applikation der fraglichen Substanz als „letale Dosis“ mit LD₅₀ angegeben. LD₅₀ bedeutet, dass nach einmaliger Gabe der entsprechenden Dosis 50% der Tiere einer Population in einer bestimmten Zeit sterben. Das heißt, bei dieser Angabe handelt es sich um einen Mittelwert und nicht um den Wert für ein Individuum. Es soll noch einmal darauf hingewiesen werden, dass, wenn nicht anders angegeben wird, immer die jeweilige, isolierte Substanz verabreicht wird, also nicht etwa ganze Pflanzen. Pflanzliche „Giftstoffe“ verfügen oft über einen stark bitteren Geschmack, so dass eine Gabe über das Futter nicht möglich ist, es sei denn, der Geschmack wird kaschiert.

Cumarine

Als ein Beispiel für „Gift“ sollen zunächst die „Cumarine“ insbesondere in Heracleum-Arten (Bärenklau) dienen. Substanzen aus dieser Stoffgruppe sind u. a. für den typischen Heugeruch verantwortlich, der durch das Absterben von Pflanzenzellen und der damit verbundenen, chemischen Prozesse entsteht. In der GESTIS-Stoffdatenbank, 2018 findet man zu Cumarin die folgende Information: „Von dem Stoff gehen akute oder chronische Gesundheitsgefahren aus“. Das klingt nicht gut und man fragt sich natürlich, ob denn nun Heu für Tiere eine akute Gefahr darstellen kann. Immerhin soll es nach Meinung vieler die "Grundnahrung" bzw. das "Grundfutter" (TVT, 2019) des Hauskaninchens bilden und wird gar als „Brot des Kaninchens“ bezeichnet (Krause, 1981)

Entsprechend ihrer Struktur lassen sich Cumarine einteilen in a) einfache Cumarine, b) Furanocumarine, c) Pyranocumarine oder d) Pyronring-substituierte Cumarine und ihre hydroxylierten, alkoxylierten und alkylierten Derivate sowie deren Glykoside.

Furanocumarine werden unterteilt in einen linearen Typ, allgemein bekannt als Psoralen-Typ und einen angulären, bekannt als Angelicin-Typ. Zum Psoralen-Typ gehören Psoralen, Bergapten, Xanthotoxin, Isopimpinellin und Imperatorin und zum Angelicin-Typ Angelicin, Pimpinellin, Isobergapten und Sphondin. Die Stoffe dienen der Pflanze u. a. nach einer Infektion durch Bakterien oder Pilzen als Abwehrstoff, um deren Ausbreitung, Wachstum oder Vermehrung in der Pflanze zu unterbinden.

Unter Einwirkung von Sonnenlicht (UVA- und UVB-Strahlung) werden Furanocumarine aktiviert und entfalten ihre phototoxische Wirkung. Das heißt, diese Wirkung ist durch den Kontakt mit dem Pflanzensaft und gleichzeitiger Einwirkung von Sonnenlicht gegeben, bei Abwesenheit von UV-Strahlung ist die akute Toxizität der Furanocumarine gering.

Die Erwähnung von Heracleum sphondylium als Giftpflanze in der Literatur geht auf den Gehalt an Furocumarinen in allen Pflanzenteilen zurück. Sie lösen durch Kontakt mit der Haut bei gleichzeitiger oder nachfolgender Einwirkung von Sonnenlicht eine phototoxische Dermatitis aus, die sich in einem zunächst brennenden und juckenden Erythem äußert, das sich im weiteren Verlauf zu einer Dermatitis mit Juckreiz und Rötung entwickelt und langandauernde Hyperpigmentierungen der Haut hinterlässt.“ (Teuscher und Lindequist, 2010).

Furanocumarine sind vor allem in Doldengewächsen (Apiaceae) in jeweils verschiedenen Konzentrationen zu finden, so z. B. in Liebstöckel (auch Maggi-Kraut, (Levisticum officinale)), Pastinake (Pastinaca sativa), Engelwurz (Angelica sylvestris), Sellerie (Apium graveolens), Petersilie (Petroselinum crispum), Riesen-Bärenklau (Heracleum mantegazzianum) und Wiesen-Bärenklau (Heracleum sphondylium). Je nach Pflanzenteil (Wurzel, Stängel, Blatt) sind die Konzentrationen der Furanocumarine sehr unterschiedlich.

Tabelle 3: Furanocumaringehalte in verschieden Pflanzen und deren Bestandteilen, in %; aus Teuscher & Lindequist, 2010 und 1) Blaschek, et al., 2013; k. A. = keine Angabe


Betrachtet man die Furanocumaringehalte in den für Kaninchen interessanten Bestandteilen der jeweiligen Pflanzen, nämlich den Blättern, lassen sich nur geringe Unterschiede feststellen. Auffällig ist nur der Gehalt in den Früchten des Riesen-Bärenklaus - er liegt deutlich über dem der Vergleichsarten. Zudem sind die phototoxischen Substanzen in den Früchten konzentriert.

Nach Untersuchungen von Weimarck & Nilsson, 1980 waren in Heracleum-Arten die Blätter der Unterarten sphondylium und sibiricum meist nicht phototoxisch. Die Unterarten alpinum, transsilvanicum, pyrenaicum, montanum und orsinii waren mäßig bis stark phototoxisch. Die Früchte waren in allen untersuchten Taxa phototoxisch und die Wurzeln in allen Taxa, außer in der Unterart alpinum. Hinweise aus der Dünnschichtchromatographie deuteten darauf hin, dass die Phototoxizität durch die Furocoumarine Xanthotoxin, Bergapten, Imperatorin und einer nicht identifizierten Verbindung verursacht werden, die überwiegend in den Früchten vorkommen.

Diagramm 1: Gehalte in mg/100g Frischesubstanz von phototoxischen Substanzen in verschiedenen Pflanzenteilen von Riesen-Bärenklau (Heracleum mantegazzianum) im Juli, nach Daten aus Pira et al., 1989


Informiert man sich bei „CliniTox“ über den Riesen-Bärenklau, findet man dort die meisten Angaben zur Toxizität aus Teuscher & Lindequist, 2010 zitiert. Dort wiederum wird u. a. folgendes geschrieben: „Furocumarine wirken fototoxisch […] Von Hautschäden, die durch den Riesen-Bärenklau ausgelöst werden sind besonders Kinder, die aus den Stängeln Blasrohre oder Stöcke zum Fechten schneiden, sowie Gärtner betroffen, die mit nacktem Oberkörper oder kurzen Hosen die Pflanzen roden und transportieren.

Obwohl die Wirkung fototoxisch ist, also im Zusammenhang mit Sonnenlicht Hautschäden verursacht, wird auch ein LD₅₀-Wert angegeben: 300-600 mg/kg Körpergewicht Xanthotoxin und Imperatorin (p. o., oder i. p.). Wohlgemerkt bezieht sich der LD₅₀-Wert nicht auf Pflanzen, sondern auf die aus ihnen isolierten Pflanzenstoffe. Deshalb gibt es auch in der Datenbank „CliniTox“ für die Toxizität keinen direkten Bezug auf eine Pflanze, sondern es heißt unter dem Punkt „Veterinärtoxikologie“ ganz allgemein „Angelica sp. / Heracleum sp.“.

Das heißt, die aus der Pflanze isolierten Stoffe Xanthotoxin und Imperatorin können in der angegebenen Menge bei 50% der Tiere einer Labormaus- oder Rattenpopulation zum Tod führen, wenn ihnen diese über eine Schlundsonde oder per Injektion in die Bauchhöhle verabreicht werden. Das hat mit der Realität, also dem Fressen frischer, wasserhaltiger Wiesenpflanzen nicht einmal annähernd etwas zu tun.

Liebenow & Liebenow, 1993 wie auch andere Fachbuchautoren zum Thema „Toxikologie“ erwähnen z. B. eine hochgradige Stomatitis mit Schleimhautnekrosen bei Ziegen. Stomatitis ist eine Entzündung der Mundschleimhaut. Tatsächlich gibt es meiner Kenntnis nach nur eine, immer wieder zitierte Arbeit mit der beschriebenen Stomatitis bei Ziegen, nämlich die von Andrews et al., 1985. Dort wurde von 1(!) Ziege berichtet, die in der beschriebenen Weise erkrankt war. Man vermutete, dass die Schädigung auf den Verzehr von Riesen-Bärenklau zurückging. Durch eigene Versuche an anderen Ziegen mit verschieden konzentrierten Lösungen des Pflanzensaftes auf der Haut fand man sich bestätigt. Was die erkrankte Ziege aber genau gefressen hatte und in welchen Mengen, konnte nicht festgestellt werden.

Eine zweite, immer wieder zitierte Arbeit, ist die von Harwood, 1985 über Hautschwellungen (Kontaktdermitis) der unpigmentierten Schnäbel von Entenküken nach der Aufnahme von Riesen-Bärenklau.

Mit den Angaben der Toxizität kann man den LD₅₀-Wert von 300-600 mg/kg Xanthotoxin auf die Menge von z. B. Riesen-Bärenklaublättern umrechnen, um zu ermitteln, welche denn für ein Tier tödlich sein könnte. Für die niedrigste Dosis Xanthotoxin von 300 mg/kg müsste ein Kaninchen mit einem Körpergewicht von 2 kg demgemäß rund 2,1 kg Riesen-Bärenklaublätter fressen – also ziemlich genau so viel, wie es selber wiegt. Das reicht aber nicht wirklich, weil in Versuchen die Mengen der betreffenden und isolierten Stoffe konzentriert in kurzer Zeit verabreicht werden.

Das entspricht nicht der Aufnahme des Stoffes mit der natürlichen Pflanze, weil diese über eine bestimmte Zeit gefressen werden muss und die Stoffe darin nicht isoliert, sondern immer im Verbund mit anderen Substanzen vorkommt. Während der Aufnahme werden die Stoffe metabolisiert (um- und abgebaut) und können gar nicht konzentriert den Körper schädigen, wie eine einmalige Gabe des isolierten Stoffes – zumindest nicht in der toxischen Menge wie im Beispiel des Riesen-Bärenklaus.

Die Ausscheidung der Metabolite der Furanocumarine erfolgt effektiv über den Urin (Teuscher & Lindequist, 2010).

Heilpflanze?

Die Abkürzung "PUVA" steht für „Psoralen und UV-A“. Dabei handelt es sich um eine Therapie bei Hauterkrankungen wie Schuppenflechte, Neurodermitis oder Vitiligo (Weißfleckenkrankheit). Dabei kommt auch Methoxsalen zum Einsatz - ein anderer Name für Xanthotoxin.

Das Werk von Dioskurides, dem griechischen Arzt und berühmtesten Pharmakologen des Altertums, "De materia medica", welches zwischen 60-78 nach der Geburt von Christus verfasst wurde, enthielt u. a. auch Beschreibungen des Einsatzes von Bärenklau bei krampfartigen Beschwerden wie „Mutterkrampf“ (krampfartiges Zusammenziehung des Muttermundes während der Geburt) und „Epilepsie“.

Der Einsatz der Furanocumarine (bzw. der Pflanzen, die solche enthalten) tauchte in verschiedenen Kräuterbüchern über die Jahrhunderte immer wieder auf. So führte z. B. Matthioli, 1590 in seinem „Kreutterbuch“ für eine innere Anwendung u. a. den „Teutschen Berenklaw“ auf, weil er: „zertheilet und heilt die Fallsucht“.

„Fallsucht“ war im Deutschen über Jahrhunderte ein Begriff für eine Krankheit, die heute „Epilepsie“ genannt wird. Bestimmte, mögliche Formen dieser Erkrankung werden von „Konvulsionen“ begleitet, die auch tonisch-klonische Krampfanfälle genannt werden. Dabei handelt es sich um Krämpfe der Körpermuskulatur, die oft mit einem Bewusstseinsverlust verbunden sind. Die französische Bezeichnung für diese Form lautet „Grand-mal“. Andere Beschreibungen sind z. B. „zerebrales Anfallsleiden“ oder „zerebrales Krampfleiden“, also Erkrankungen, die Funktionen des Gehirns betreffen und durch den Organismus nicht steuerbar sind. Diese paroxysmalen (anfallartigen) Funktionsstörungen des Gehirns werden durch exzessive Entladungen von Neuronen verursacht wird (Pschyrembel, 2002). Als Auslöser für die Krankheit kommen verschiedene äußere und innere Faktoren in Betracht:
  • Hirnerkrankungen (Fehlbildungen, erbliche Störungen mit Fehlbildungen im Bereich der Haut und des Nervensystems, Trauma, Blutungen, Entzündungen, Tumore)
  • Infektion des Gehirns (Enzephalitis) mit verschiedensten Erregern wie Viren, Bakterien oder Protozoen (z. B. Toxoplasmose, Anaplasmose, Wurmerkrankungen etc.)
  • Stoffwechselkrankheiten,
  • Mitochondropathien. Mitochondrien sind Zellorganellen, die für die Bereitstellung von Energie in Körperzellen in Form von ATP (Adenosintriphosphat) zuständig sind.
So genannte „Antiepileptika“ (Antikonvulsiva) enthalten z. B. den synthetischen Wirkstoff „Valproinsäure“, der über die gleiche Wirkung wie bestimmte Furanocumarine verfügt. Für die antiepileptische Wirkung wird u. a. die Blockade von erregenden Ionenkanälen (spannungsabhängige Natrium- und Calcium-Kanäle) sowie eine Verstärkung der Wirkung des hemmenden Neurotransmitters GABA (englisch:  gamma-Aminobutyric acid) angenommen. Antikonvulsiva heilen also die Krankheit nicht, sondern lindern die Symptome, indem sie die überschießende Reaktion von Neuronen im Gehirn abschwächen. In Tierversuchen wurden diese Wirkungen z. B. für Xanthotoxin und Imperatorin, also Inhaltsstoffen des Bärenklaus nachgewiesen (Tosun et al., 2008; Łuszczki et al., 2010).

Erfahrungen haben gezeigt, dass Kaninchen, die an „Encephalitozoonose“ (EC) erkrankt waren und denen Bärenklau angeboten wurde, diesen in auffällig großen Mengen fraßen und gegenüber anderen Nahrungspflanzen deutlich bevorzugten (Rühle & Stieß, 2010). Die Krankheit wird durch den parasitär lebenden Einzeller „Encephalitozoon cuniculi“ verursacht. Betroffene Tiere zeigen typische, neurologische Ausfallerscheinungen wie Schiefhals (Torticollis), Augenzittern (Nystagmus), Koordinationsstörungen (Ataxie), Lähmungen und Krämpfe. Vor allem die Anzahl der Krämpfe wie auch deren Heftigkeit konnten durch die Gabe von großen Mengen (ad libitum) Bärenklau in einigen Fällen deutlich verringert werden.

Die Ursache für EC ist einerseits natürlich der Befall mit dem Erreger, aber zum Ausbruch der Krankheit kommt es in der Regel nur bei immungeschwächten Tieren. Eine Übersicht der Literatur zu Encephalitozoon-cuniculi-Antikörperprävalenzen in verschiedenen Regionen und Populationen sowohl von Wild- wie auch Hauskaninchen weltweit bietet die Dissertation von Flock, 2010 (Tabelle 3, Seite 15).

Nahrungspflanze?

Unter dem Stichwort "Acanthus Germanicus" schrieb bereits der Naturwissenschaftler und Arzt Johann Georg Krünitz in seiner „Oekonomischen Encyklopädie“, 1773-1885 über den "teutschen Bärenklau": "Die Caninchen sind sehr begierig nach den Blättern" bzw. dass sie "von den Caninchen geliebt" werden.

Von einem Autorenkollektiv um Klapp, et al. 1953 wurden so genannte „Futterwertzahlen“ für Pflanzen des Grünlandes erstellt. Die Bewertung erfolgte nach 10 Wertklassen: "Die höchste Wertzahl 8 erhielten nur die jederzeit und in jeder Form hochwertigsten Arten, die Wertzahl 0 gilt für Arten ohne jeden Futterwert, bzw. solche, die vom Vieh nicht angerührt werden, wie manche Disteln, Hauhechel, Ginster, Heidekraut usw., während alle Giftpflanzen die Wertzahl -1 erhielten." In der Aufstellung von 273 Pflanzen ist auch der Wiesen-Bärenklau mit einer Wertzahl von 5 vertreten – ebenso wie z. B. der Löwenzahn, der ebenfalls eine Wertzahl von 5 aufweist. Das heißt, beide Pflanzen sind in ihrem Wert für Pflanzenfresser gleich. Die höchste Wertzahl von 8 erhielten z. B. Weißklee (Trifolium repens) und das Deutsche Weidelgras (Lolium perenne).

Heinz Zimmermann beschrieb 1966 den Anbau von Bärenklau (Heracleum sosnowski) als wertvolle Futterpflanze in der UDSSR und DDR und gab auch Gehalte für die Rohnährstoffe an.

Tabelle 4: Rohnährstoffe und Mineraliengehalte für Bärenklau (Heracleum sosnowskyi) in % der Trockenmasse; aus Zimmermann, 1966 (unberegnet); Verdauliche Energie errechnet nach GfE, 2014


Interessant ist schließlich noch die Zitierung in der Datenbank CliniTox, 2018 von Dietl, W. & Jorquera, 2003 zum futterbaulichen Wert des Wiesen-Bärenklau: „Blätter wertvoll, reich an Energie, Eiweiß und Mineralstoffen, gut verdaulich; Stängel hart, geringwertig; in Anteilen von 10-15% gut geeignet zur Silage- und Mähweidennutzung, hohe Bröckelverluste bei der Heuwerbung“.

Das heißt, in der gleichen Datenbank, die den Bärenklau als „giftig+“ angibt, werden positive Angaben für den Anbau als Futterpflanze zitiert.

Zusammenfassung

Viele Nahrungspflanzen des Kaninchens gelten aus Sicht des Menschen als giftig. Für manche trifft das zwar auch für das Kaninchen zu, dabei muss jedoch berücksichtigt werden, in welchen Mengen bestimmte Pflanzen aufgenommen werden müssen, um einen toxischen Effekt auszulösen. LD50-Werte für die akute Toxizität sind dabei selten hilfreich, weil diese in der Regel an Ratten oder Mäusen ermittelt werden und hierfür die betreffenden, isolierten Pflanzenstoffe in einer Form und Zeit verabreicht werden, die mit einer natürlichen Nahrungsaufnahme nicht vergleichbar sind. Im Fall des Bärenklaus gelten bestimmte Substanzen als phototoxisch, verursachen also in Verbindung mit UV-Strahlung Schäden auf der Haut. Für Vergiftungen, insbesondere bei Kaninchen, existieren in der Literatur keine Angaben. Dagegen finden sich Belege für den Einsatz als Futterpflanze und im Altertum als Heilpflanze bei bestimmten Erkrankungen. Versuche zeigten in den letzten Jahren, dass bestimmte Wirkungen wie zum Beispiel „krampflösend“ (antikonvulsiv) auf Furanocumarine als Inhaltsstoffe des Bärenklaus zurückzuführen sind und diese mit medizinischen Antikonvulsiva (Antiepileptika) wie dem Wirkstoff Valproinsäure vergleichbar sind. Xanthotoxin als Furanocumarin des Psoralen-Typs wird unter dem Namen Methoxsalen medizinisch bei bestimmten Hauterkrankungen eingesetzt.

Seit vielen Jahren wird von mir Bärenklau als Kaninchenfutter empfohlen, insbesondere bei Tieren, die an Encephalitozoonose (EC) erkrankt waren. In einigen Fällen konnten damit Verbesserungen im Anfallsgeschehen erreicht werden. Diese Fälle sind nicht wissenschaftlich begleitet und dokumentiert worden. Getrockneter Bärenklau eignet sich auch als hervorragend als Winterfutter (Heu), wobei die Trocknung vorsichtig und ohne großen mechanischen Aufwand erfolgen sollte, weil die Blätter sehr leicht zerbröseln. Wenn möglich, sollten die Blätter von den Stängeln getrennt werden, weil diese nur sehr langsam trocknen.

Wird fortgesetzt ... 😉

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